Dornröschens Erlösung
Dornröschen an. Sie kannte
die Qualen, die er durchlitt. Aber es spielte wirklich keine Rolle, was er
dachte und empfand. Er könnte sie niemals beherrschen. Siewusste es.
“Zieht Euch an!“ wiederholte sie.
Und diesmal gehorchte er. Doch sein Gesicht blieb errötet. Er
zitterte noch immer, auch als er seine Kleider wieder angelegt und den Mantel
um die Schultern geschwungen hatte. Für einen langen Moment musterte sie ihn. Dann
begann sie zu sprechen.
“Wenn Ihr ein Sklave der Lust sein wollt, begebt Euch direkt
nach Osten, ins Land von Königin Eleanor. Sobald Ihr in der Nähe eines Dorfes
seid, legt Eure Kleider ab und verstaut sie in Eurem ledernen Reisebeutel. Dann
vergrabt alles tief in der Erde. Dann geht ins Dorf, und wenn Euch Dorfbewohner
entdecken, lauft vor ihnen weg. Sie werden annehmen, dass Ihr ein entlaufener Sklave
seid und werden Euch schnell genug einfangen und zum Hauptmann der Garde
bringen, auf dass Ihr bestraft werden möget. Ihm erzählt Ihr dann die Wahrheit.
Sagt ihm, dass Ihr der Königin Eleanor dienen wollt. Nun geht, mein Lieber.“
Er starrte sie an, erstaunt über ihre Worte. “Ich würde mit
Euch gehen, wenn ich könnte, aber sie würden mich nur zurückschicken“, sagte sie.
„Es hat keinen Zweck. Nun geht. Ihr könnt die Grenze vor Anbruch der Dunkelheit
erreichen.“
Er antwortete nicht, nestelte nur kurz an seinem Schwert und
an seinem Gürtel. Dann kam er wieder auf Dornröschen zu und schaute sie an.
“Werdet Ihr gehen? “ flüsterte sie. Doch sie wartete die
Antwort nicht ab. „Wenn Ihr es tut, und den Sklaven Prinz Laurent seht, dann
sagt ihm von mir, dass ich stets an ihn denke und dass ich ihn liebe. Bestellt
Tristan dasselbe . . . „
Sinnlose Botschaften, sinnlose Verbindung zu all dem, was
ihr genommen worden war. Der Prinz schien ihre Worte sorgsam abzuwägen. Und
dann ging er. Dornröschen war wiederallein.
“Was soll ich tun? “ klagte sie leise. „Was soll ich nur tun?
“
Sie weinte bitterlich. Sie dachte an Laurent, und wie leicht
er sich vom Sklaven zum Herren erhoben hatte. Sie konnte so etwas nicht tun. Sie
war zu neidisch auf das Leiden, das sie anderen zufügte, und zu erpicht auf die
Unterwerfung. Sie konnte nicht in Laurents Fußstapfen treten. Sie konnte nicht
das Beispiel der bösen Lady Juliana nachahmen, die von einer nackten Sklavin
zur Herrin geworden war. Vielleicht fehlte Dornröschen die Hingabe und
Begeisterung, die Laurent und Juliana eigen war. Hatte Laurent es
fertiggebracht, eben in den Rang eines Sklaven zurückzukehren? Ohne Zweifel war
ihm und Tristan härteste Bestrafung widerfahren. Wie war es Laurent ergangen? Wenn
sie es doch nur wüsste.
Wenn sie doch nur den geringsten Teil dessen kennen würde, was
er nun erlitt. Als der Nachmittag, fortgeschritten war, verließ sie das Schloss
und lief durch die Straßen des Dorfes, ihre Höflinge und Dienerinnen im Gefolge.
Leute blieben stehen und verbeugten sich vor ihr. Frauen kamen an die Türen
ihrer Hütten, um ihr stillen Respekt zu zollen. Dornröschen blickte in die
Gesichter derer, die an ihr vorübergingen. Sie betrachtete die stumpfen Bauern
und die Milchmädchen und die reichen Bürger und fragte sich, was wohl in den
Tiefen ihrer Seelen vor sich ging. Träumte denn niemand vom Reich der
Sinnlichkeit, in dem Leidenschaft zu weißer Glut entflammt wird, und von
vollendeten Ritualen, die das tiefste Geheimnis der erotischen Liebe bloßlegen?
Sehnte sich niemand dieser einfachen Leute nach Herren und Gebietern oder Sklaven?
Dornröschen fragte sich, ob im normalen Leben nicht eine
Lüge verborgen lag, eine Lüge, die sie erkennen konnte, wenn sie es versuchte. Doch
als sie die junge Magd beobachtete, die an der Tür zum Wirtshaus stand, oder
den Soldaten, der von seinem Pferd stieg, um sich über das junge Ding zu beugen,
sah Dornröschen nur das übliche Verhalten. Alle waren an die Pflicht gebunden, der
Prinzessin den gebührenden Respekt zu erweisen, während sie, Prinzessin
Dornröschen, durch Sitte und Gesetz an diesen anständigen und erlesenen Platz
gebunden war. Sie machte sich auf den Heimweg zum Schloss ihres Vaters. Zurück
zu ihren einsamen Gemächern.
Sie saß am Fenster, legte den Kopf auf die gefalteten Arme
im steinernen Fenstersims und träumte von Laurent und all denen, die sie
verlassen hatte. Sie träumte von der vollendeten und unschätzbaren Erziehung
des Körpers und der Seele, die nun ein Ende gefunden hatte und für immer
verloren war.
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