Dornröschenschlaf
als Brenna statt um 10.30 erst um 10.42 Uhr zum Brunch in der Cowgirl Hall of Fame erschienen war. Brenna hatte in dem Augenblick gedacht: » Feindseligkeit? Wie kommt sie denn auf dieses Wort?«, und dann hatte Maya über ihren Eiern Benedikt hinzugefügt: »Faith kommt nie zu spät.« Was Brenna wie ein ziemlich feindseliger Satz erschienen war, doch nachdem sie das gesagt hatte, hatten sie den Rest der Mahlzeit in eisigem Schweigen hinter sich gebracht.
Und auch heute Abend würde Maya sie bestimmt mit bösen Blicken in Empfang nehmen. Sie hatte ihr eine Entschuldigung gesimst, auf die natürlich keine SMS zurückgekommen war.
Als Brenna in ihre Wohnung kam, wurde sie denn auch nicht von ihrer Tochter, sondern nur von deren Ruck-
sack in Empfang genommen, der wie ein riesiger Tafelaufsatz mitten auf dem Küchentisch prangte. »Maya!«, rief sie.
Keine Antwort.
Dann bemerkte sie den gelben Zettel an ihrem Computermonitor:
GUCK NACH DEINEN E-MAILS
TNT
PS: Leg dir endlich ein iPhone zu.
Sie wollte gerade den Computer hochfahren, als ihr klarwurde, dass ihre E-Mails noch ein wenig würden warten müssen, weil sie plötzlich einen zweiten Rucksack neben dem von Maya liegen sah. Sie trat näher an den Tisch und berührte ihn mit der Hand. Ein schwarzer Jansport. Dieses Ding hatte sie nie zuvor gesehen.
»Maya?«
Sie hörte eine Männerstimme. »Du bist wirklich unglaublich gut«, erklärte sie und fragte dann: »Wo hast du das gelernt?«
Brenna lief zum Zimmer ihrer Tochter, aus der diese dunkle junge Stimme kam. Wie hübsch du bist, Clee-bee. Zähneknirschend klopfte Brenna an. »Maya?«
Die Tür ging auf, und dort war ihre Tochter, mit gerötetem Gesicht und diesem schiefen Lächeln, das sie immer hatte, wenn ihr etwas peinlich war. Sie sah gleichzeitig unglaublich jung und erschreckend erwachsen aus. »Hi, Mom. Ich arbeite gerade an meinem Kunstprojekt.«
Brenna sah an ihr vorbei auf den jungen Mann, der bequem im Schneidersitz auf dem Bett der Tochter saÃ.
»Hallo, Mrs Rappaport. Ich bin â¦Â«
»Miles.«
»Genau.«
»Aber ich heiÃe Spector und nicht Rappaport.«
Sein Lächeln schwand. »Oh ⦠tut mir leid.«
Brenna hörte sich fragen: »Was macht ihr hier?«
Maya räusperte sich leicht. »Das habe ich doch schon gesagt. Wir arbeiten an einem â¦Â«
»⦠Kunstprojekt. Ich weiàâ¦Â« Sie schloss kurz die Augen und zählte eilig in Gedanken von zwanzig bis vierundsechzig, damit die Erinnerung verschwand. 8. September 1981. Das kalte Metall des Stuhls drückt gegen ihre nackten Beine, und sie riecht den Bohnerwachs auf dem Holzboden der Turnhalle der Schule, während sie wie ein Gespenst in der morgendlichen Versammlung sitzt. Es ist der erste Tag des sechsten Schuljahrs. Der erste Schultag ohne Clea. Die Schulleiterin spricht von einer Spendensammlung für unterprivilegierte Jugendliche in der südlichen Bronx, und Brenna spürt, dass alle anderen sie anstarren. Spürt die kalten, neugierigen Augen überall. Aaron Spiegel, der direkt hinter ihr sitzt, flüstert Katie Johnson etwas zu. Im Grunde will es Brenna gar nicht hören, aber trotzdem spitzt sie ihre Ohren, um die Worte zu verstehen.
»⦠die totale Schlampe. Mein Bruder Steve hat mir erzählt, dass sie es mit dem ganzen Footballteam getrieben hat.«
»Wahnsinn!«
»Clea-mydie, so hat Steve sie immer genannt. Ich wette, sie ist einfach durchgebrannt und geht jetzt irgendwo auf den Strich.«
Brenna biss sich auf die Lippe.
»Oder vielleicht dreht sie auch Pornos.«
»Mom?«
»Tut mir leid, Miles, aber du musst gehen. Es ist inzwischen furchtbar spät, und Maya muss noch Hausaufgaben machen.«
»Das hier sind meine Hausaufgaben, Mom.«
»Schon gut. Tschüs, Miss Spector, ciao, Maya.« Miles stand auf, doch erst als er an ihr vorbeiging, bemerkte Brenna, dass er wirklich einen Skizzenblock und einen Satz Stifte bei sich trug. Nette Requisiten , dachte sie.
Nachdem Miles gegangen war, wandte sich Brenna Maya zu, und während mehrerer Sekunden starrten sie einander wortlos an.
SchlieÃlich fragte Maya: »Hast du Lust auf Pizza?«
»Was zum Teufel ist nur mit dir los?«
Maya sah sie reglos an. »Oder willst du lieber etwas vom Chinesen?«
Brenna kniff die Augen zu. »Können wir reden? Bitte?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher