Dornteufel: Thriller (German Edition)
wissen gar nichts.«
»Kommen Sie rein! Erzählen Sie mir, was los ist.«
Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich noch weiter nach vorn. »Da sind so viele Menschen«, sagte sie nach einer Weile. »Was wollen die alle von mir?«
»Dass Sie nicht springen.« Das war eine Lüge. Es gab immer Schaulustige, die darauf spekulierten, dass jemand sprang. Vielleicht wurden schon Wetten auf den Ausgang dieses Schauspiels abgeschlossen.
»Tun Sie mir einen Gefallen?« Sie drehte sich noch einmal kurz zu ihm um. Ihre Stimme klang flehend. »Sehen Sie mich nicht an.«
Ihre Finger lockerten sich wie im Zeitlupentempo. Sie zuckte noch einmal zurück, als bereue sie ihren Entschluss, und dann fiel sie hinab – lautlos, ohne einen Schrei. Sie verschwand aus seinem Blickfeld, als hätte es sie nie gegeben. Ferland trat zurück, schloss die Augen. Am liebsten hätte er die Hände gegen seine Ohren gedrückt, um nichts mehr hören zu müssen, doch hier oben kam außer dem Pfeifen des Windes sowieso nicht viel an. Sie hieß Moira, und sie hatte sich in den Tod gestürzt. Er konnte nichts mehr für sie tun.
»Komm wieder rein, Ryan.« Er fühlte die Hand seines Kollegen Flavio auf der Schulter. »Das war doch von vornherein ein verlorenes Spiel.«
Das sollte ihn jetzt wohl trösten? Große Klappe, aber im Ernstfall blieb doch immer alles an ihm hängen. Er würde sich Vorwürfe machen, die kurze Begegnung in Gedanken immer wieder durchspielen und nach seinem Fehler, nach seiner verpatzten Chance suchen. Der Hausmeister, der sie in die leer stehende Wohnung gelassen hatte, verschloss wieder sorgfältig das Fenster und betonte, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie diese Frau überhaupt in die Wohnung gekommen sei: wahrscheinlich von außen hochgeklettert, diese Verrückten brächten ja alles fertig. Wie sie dort hochgekommen war? Er konnte sich das nicht erklären. Vielleicht war sie auf einen Müllcontainer geklettert, um den ersten Absatz der Feuertreppe zu erreichen? Also, seine Schuld war das gewiss nicht.
Sie gingen durch das schwach erleuchtete Treppenhaus hinunter, das nach Suppe und schmutzigen Babywindeln roch. Ferland versuchte, sich vor dem Anblick zu wappnen, den die Leiche der Frau gleich bieten würde. Nach einem Sturz aus dem sechsten Stock – bestimmt achtzehn Meter oder mehr – sah ein menschlicher Körper schrecklich aus. Die Haut eines Menschen war zwar zäh und hielt einer Menge Belastungen stand, aber die Wucht des Aufpralls war so stark, dass alle möglichen Knochen im Körper brachen und die inneren Organe zerrissen wurden. Manchmal war sogar die Aorta zerfetzt. Wie üblich würde er auch in diesem Fall im Bericht der Rechtsmedizin detailliert nachlesen können, welche Verletzungen die Selbstmörderin erlitten hatte.
Als sie aus dem Haupteingang traten, waren die Sanitäter und ein Notarzt bei ihr. Es dauerte nicht lange, da winkte einer der Männer ihn zu sich. »Nichts mehr zu machen. Das war’s für uns. Wir hauen ab.«
Ferland straffte die massigen Schultern und näherte sich der Toten. Die Blicke der Schaulustigen hinter der Absperrung prickelten in seinem Nacken. Ein paar Fragen waren noch nicht geklärt. Nicht nur die nach dem Motiv. An der Art der Brüche konnte man für gewöhnlich sehen, ob die Frau doch noch versucht hatte, den Sturz irgendwie abzufangen, was dafür sprechen würde, dass Moira ihren Entschluss im letzten Moment bereut hatte. Waren die Handgelenke und die Armknochen gebrochen?
Er beugte sich zum linken Arm herab, der im Licht eines eilig installierten Scheinwerfers gut zu sehen war. Ferland musste schlucken. Sein Verstand sagte ihm, dass sich ihr Daumen beim Aufprall durch den Handrücken gebohrt hatte. Weiter nichts. Sein Blick ging weiter zu den entblößten Beinen. Wie erwartet, zeichneten sich die Röhrenknochen als gut erkennbare Abdrücke weißlich unter der Haut ab, umrahmt von zahllosen Blutergüssen. Doch die Haut der Frau sah an den Beinen seltsam schlaff und fleckig aus. Das war ihm zwar schon häufiger zu Gesicht gekommen – aber nur, wenn sich eine Leiche länger unentdeckt in einer Wohnung befunden hatte. Moira hingegen war erst seit ein paar Minuten tot. Er sah an der Fassade des Gebäudes empor. Die schwarze Feuertreppe, auf der er eben noch mit ihr zusammen gestanden hatte, zog sich zickzackförmig vor der grauen Fassade empor: ein beliebtes Fotomotiv für New-York-Touristen. Über ihm spannte sich ein bewölkter Nachthimmel. Nichts, was zu trösten
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