Dornteufel: Thriller (German Edition)
schlanken Beine flatterte dünner Stoff. Es sah so aus, als hätte sie das Shirt über ein Sommerkleid oder ein Nachthemd gezogen. Plötzlich begann sie, ein bisschen hin- und herzuwippen – ihre Knie schienen immer wieder ein paar Zentimeter nachzugeben –, so als probe sie schon den Absprung.
»Ich komm jetzt zu Ihnen raus!«, rief Ryan Ferland, Detective 2 nd Grade beim New York City Police Departement. Dann schwang er sein Bein über die Fensterbrüstung. Nicht, dass er große Lust hatte, auf einer vielleicht maroden Feuertreppe herumzuklettern, noch dazu im Februar, bei mickrigen vier Grad Lufttemperatur und Windstärke fünf. Es war ein Samstagabend, und neben dem Einsatzfahrzeug hatte sich eine erkleckliche Anzahl Schaulustiger auf der Straße eingefunden. Der dünne Metallrost bebte, als er mit beiden Füßen das Podest betrat. Der Wind draußen war eisig, aber sein Parka, seine Mütze und Handschuhe würden ihn einigermaßen warm halten, sollte das hier länger dauern. Der Körper der Frau musste vor Kälte schon taub und gefühllos sein.
Die Meldung, dass in einem Gebäude an der Walker Street, Ecke Baxter Street, eine Frau auf einer Feuertreppe im sechsten Stock stand und anscheinend herunterspringen wollte, war vor zehn Minuten über Funk eingegangen. Pech für ihn, dass er sich gerade in der Nähe befunden hatte. Pech auch, dass er der dienstälteste Detective seiner Abteilung beim NYPD war, der nicht unter Höhenangst litt. Aufgrund seines Gesundheitszustandes war er allerdings nicht gerade in Bestform: Sie hatten ihm vor ein paar Wochen ein malignes Melanom im Nacken entfernt, und die ärztliche Prognose lautete, dass seine Fünf-Jahres-Überlebenschance bei 40 Prozent lag. Das machte ihm zu schaffen – allerdings in diesem Augenblick mehr wegen der Frau an der Brüstung als um seinetwillen. Wenn er sich nicht richtig konzentrierte und einen Fehler beging, sodass er sie nicht retten könnte, würde er sich deswegen schuldig fühlen.
»Kommen Sie nicht näher!«, schrie die Frau ihn an, ohne ihn anzusehen. Sie war, der Stimme nach zu urteilen, noch nicht alt, Anfang bis Mitte zwanzig vielleicht.
Herrgott, da hatte sie ihr Leben noch vor sich. Er musste mit ihr reden. Vor allem musste er sich jetzt langsam mal daran erinnern, was man in so einem Fall sagen sollte. Da gab es Richtlinien, die er gelernt hatte. Doch sein Kopf war leer.
»Tun Sie’s nicht«, erwiderte er. »Es gibt immer eine Lösung.«
Na toll, wie überzeugend war das denn? Was wusste er schon über diese Frau und ihre Probleme? Sie drehte den Kopf und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Es war dunkel, und der Wind wehte ihr trotz der Kapuze, die sie trug, das lange Haar vors Gesicht. Er konnte nicht viel mehr davon erkennen als zwei weit aufgerissene Augen, die verzweifelt aussahen. Er registrierte, wie ihr schmaler Körper zuckte und sich eine Hand am Geländer lockerte. Noch schaffte sie es nicht, die Metallstange loszulassen, aber es fehlte nicht mehr viel.
»Sie können mich nicht daran hindern. Wenn Sie näher kommen, springe ich. Ich tu’s sowieso.«
»Sie hätten es längst hinter sich bringen können. Ihr Zögern ist ein Zeichen dafür, dass Sie es nicht wirklich wollen.«
»Glauben Sie etwa, dass das einfach ist?«
Der Wind blies so stark, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen. Sie blickte jetzt wieder stur nach unten. Er sah nur die Kapuze, die flatternden Haarsträhnen und die schmalen, geröteten Hände an der Metallstange.
»Ich heiße übrigens Ryan«, sagte er. »Ich meine, wenn wir uns schon zusammen hier draußen den Arsch abfrieren, können wir uns ja gegenseitig ein wenig kennenlernen. Wer sind Sie?«
»Moira. Aber geben Sie sich nicht zu viel Mühe. Das lohnt sich nicht. Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Wenn Sie tot sind, Moira, haben Sie alle Ruhe der Welt. Warum die letzten Minuten nicht noch nutzen?«
»Verschwinden Sie!« Sie heulte fast, aber er glaubte, dass sie insgeheim froh war, dass er hier in ihrer Nähe stand. Selbst kurz vor seinem Tod wollte der Mensch nicht allein sein. Er musste verhindern, dass sie sprang – mit den richtigen Worten. Er würde sie jedenfalls nicht festhalten können, wenn sie losließ. Unmöglich. Dann konnte er nur noch zusehen …
»Es gibt eine Lösung, Moira. Lassen Sie uns drinnen darüber reden. Geben Sie mir eine Chance.«
»Sie können mir nicht helfen«, entgegnete sie, ohne ihn anzusehen.
»Vielleicht doch. Was haben Sie zu verlieren?«
»Sie
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