Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
schwüle Sommertage in Petersburg, der »stinkenden Stadt«, die nur einmal von einem reinigenden nächtlichen Gewitter unterbrochen werden. Sämtliche Werke Dostojewskijs sind durch eine Zerdehnung der Zeit gekennzeichnet, was zunächst, insbesondere angesichts des beträchtlichen Umfangs der großen Romane, nicht auffällt. In Verbrechen und Strafe ist die beschriebene Zeitspanne besonders kurz, ja, verglichen mit Dostojewskijs Vorgehen in den anderen vier großen Romanen, die kürzeste überhaupt! Es kommt dadurch zu einer besonders wirkungsreichen atmosphärischen Geschlossenheit.
Während der fünfzehn Tage, die Raskolnikow vor unseren Augen existiert, ist er ständig krank. Er hat Fieber und wird von Kälteschauern geschüttelt. Einmal, im dritten Kapitel des zweiten Teils, fällt er in eine tiefe Bewusstlosigkeit, die mit geringfügigen Unterbrechungen drei Tage andauert; ein anderes Mal wird er, zu Beginn des sechsten Teils, von sonderbaren Bewusstseinsstörungen befallen, die ihn wiederum drei Tage lang heimsuchen. Über diese insgesamt sechs Tage erfahren wir so gut wie nichts, nämlich nur das, was Raskolnikow über sie rekonstruieren kann. So werden innerhalb der Zeitspanne von insgesamt fünfzehn Tagen, die der Roman abschreitet, nur neun Tage jeweils ausführlich geschildert.
Am Beginn des Romans sehen wir ihn an einem besonders heißen Tag Anfang Juli aus der Enge eines sargähnlichen Zimmers die Treppen eines Mietshauses hinabsteigen: hinunter in die Krankheit des Verbrechens. Am Ende des Romans sehen wir ihn nach einer gewittrigen Nacht die Treppe zum Polizeibüro emporsteigen: hinauf in die Genesung durch Annahme der Strafe, die ihn in die freie Luft der sibirischen Natur führt. Dostojewskij gestaltet das Verbrechen als Krankheit. Man könnte sagen: Verbrechen und Strafe ist die Geschichte eines Verbrechens als Geschichte einer Krankheit.
Besonderheiten
Von allen Romanen Dostojewskijs hat Verbrechen und Strafe die meisten Träume. Raskolnikows Träume kommentieren sein Denken und Handeln. Sie sind die Abgesandten seiner Seele, die Boten seines verdrängten schlechten Gewissens. In ihnen reagiert sein Unbewusstes auf die Aktivitäten seines Bewusstseins; sein Unbewusstes steht auf, sobald sein Bewusstsein durch Übermüdung und Schlaf abgeschaltet wird, wenn auch nicht ganz, sondern nur in seiner Dominanz. So mischen sich in Raskolnikows Träumen Außenwelt und Innenwelt. Man darf sagen: Raskolnikows Träume erzählen, nacheinander gelesen, die Geschichte der Vergewaltigung seiner Seele durch sein Ich. In den Träumen, die ihn heimsuchen, lebt sein Gewissen, das er mit seinem Denken und Handeln zu verleugnen sucht. Kurzum: Raskolnikow ist ein Gespaltener und entspricht damit seinem Namen (von russ. raskol = »Spaltung«).
Sein Ich setzt das in die Tat um, was seine Seele nicht aushält. Durch diese Spaltung erkrankt sein Körper. Fieberschauer, Ohnmachtsanfälle, Albträume sind die Folge. Indem Dostojewskij einen imaginären Erzähler einsetzt, der sowohl zu Raskolnikows Denken als auch zu Raskolnikows Träumen Zugang hat, wissen wir, die Leser, mehr über Raskolnikows Innenleben als er selbst. Wir beobachten aus allernächster Nähe wie unter einer Lupe das Innenleben eines Mörders: vor, während und nach der Tat, zeitlich zusammengerafft auf fünfzehn Tage, von denen aber nur, das sei wiederholt, neun geschildert werden, weil Raskolnikow sechs Tage ohne Bewusstsein ist: in psychosomatischer Erschütterung. In solcher Erschütterung tritt er weg aus einer Welt, die er nicht aushält, sich aber selber, durch sein Handeln, eingerichtet hat. Zu unterscheiden ist zwischen Wachbewusstsein, Traum und Bewusstlosigkeit.
Die Angst davor, dass seine Täterschaft entdeckt werden könnte, lässt für Raskolnikow auch die Wirklichkeit zum Albtraum werden. Dostojewskij präsentiert uns ein aufgestörtes und für die Dauer der Gegenwartshandlung völlig verstörtes Bewusstsein, das erst im sibirischen Zuchthaus zur Ruhe kommt. Auch dort wird sein Gemütszustand durch einen Traum gekennzeichnet.
Ein einziges Mal wechselt über längere Zeit die Erzählperspektive: Swidrigajlow hat in einem Hotelzimmer während einer Regennacht einen üppigen Traum, der seine libidinöse Fixierung auf minderjährige Mädchen luxuriös ins Bild hebt, bevor er sich in den frühen Morgenstunden auf der Straße vor einem Feuerwehrhaus erschießt. In derselben Nacht irrt Raskolnikow durch Petersburg (was uns nicht geschildert
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