Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
Vom Netzwerk:
wird), bevor er sich am Morgen der Polizei stellt und seine Tat gesteht, was uns im Detail geschildert wird. Durch solche Parallelschaltung impliziert Dostojewskij, dass Raskolnikow sich ebenfalls mit der Möglichkeit des Selbstmords konfrontiert sah, aber den Sprung in die Strafe wählte: zurück ins lebendige Leben. Gleichzeitig mit Raskolnikows Geständnis trifft die Meldung von Swidrigajlows Selbstmord im Polizeirevier ein.
    Herausragend aus Raskolnikows Träumen sind sein Traum vom zu Tode geprügelten Pferd (vor der Tat) sowie sein Traum von der Rückkehr an den Tatort, der in den Auftritt Swidrigajlows einmündet. Betrachten wir die zeitliche Struktur des Traums vom zu Tode geprügelten Pferd (Teil I, Kap. 5). Die geträumte Situation fasst die Vergangenheit Raskolnikows und die Zukunft Raskolnikows im gegenwärtigen Geschehen zusammen. Raskolnikow träumt, dass er als siebenjähriger Knabe mit seinem Vater an einem Feiertag vor der Stadt, seiner Heimatstadt, spazieren geht und Zeuge wird, wie ein junger Bursche »mit dickem Hals und fleischigem Gesicht, das rot ist wie eine Mohrrübe«, ein kleines Pferd, das vor ein viel zu großes Fuhrwerk gespannt ist, mit einer eisernen Brechstange zu Tode prügelt, indem er der Stute schließlich das Rückgrat bricht. Auf dem Fuhrwerk sitzt unter johlenden Bauern ein rotbackiges Weib, das unentwegt Haselnüsse knackt und dabei lacht; jemand ruft dem prügelnden jungen Mann, der zunächst mit der Peitsche, dann mit einer Deichselstange zuschlägt, zu: »Ein Beil muß her! Dann bist du gleich mit ihr fertig!« Einige Leute schlagen dem Pferd mit der Peitsche auf die Augen, und als es unter der eisernen Brechstange des jungen Bauern, der Mikolka gerufen wird, das Maul vorstreckt und stirbt, drängt sich der siebenjährige Raskolnikow mit einem Schrei durch die Menge und küsst es auf das blutüberströmte Maul, auf die Augen, auf die Lippen. Sein Vater sagt: »Betrunken sind sie, treiben Unfug, das geht uns nichts an, gehen wir nach Hause!« Raskolnikow umschlingt seinen Vater mit den Armen, ringt nach Luft, schreit auf und erwacht.
    Nebenbei sei vermerkt, dass dieser Traum im Unterschied zu seinem Kontext im Präsens erzählt wird. Dostojewskij selbst hat ihn mit Vorliebe vorgetragen. Raskolnikows Traum vom zu Tode geprügelten Pferd, der keine tatsächliche Erinnerung Raskolnikows wiedergibt, sondern seine gegenwärtige objektive Situation auf der Grundlage tatsächlich erlebter ländlicher Gepflogenheiten verarbeitet, hebt seine paradoxe Zwangslage mit unabweisbarer Klarsicht in ein Bild, das aus den Tiefen seiner Seele aufsteigt: Raskolnikow ist Opfer, Täter und kindlicher, das heißt sittlicher Zeuge zugleich.
    All diese Träume werden im Text als solche gekennzeichnet. Dostojewskij hält aber noch einen anderen Traum parat, der nicht als solcher gekennzeichnet wird: den Traum nämlich, den Raskolnikow träumt, als er kurz vor der Tat, die er ja auf sieben Uhr angesetzt hat, auf seinem Sofa einschläft, regungslos auf dem Bauch, den Kopf ins Kissen gepresst. Vorweg sei festgestellt: aus diesem Traum erwacht Raskolnikow erst nach dem Epilog. Alles, was nach seinem Einschlafen im sechsten Kapitel des Ersten Teils folgt, ist, poetologisch betrachtet, ein Traum Raskolnikows. Das Geschehen dieses Romans gehorcht nach dem Einschlafen Raskolnikows kurz vor sieben Uhr dem Kunstgriff des »delegierten Phantasierens«, wodurch sich Dostojewskij die außergewöhnliche Eingängigkeit dieses Romans, der sein populärster überhaupt ist, gesichert hat. [48]   Eine fiktive Person wird in einer Zwangslage vorgeführt, die sie in einem »längeren Gedankenspiel« verarbeitet, in dem sich die objektive Realität der Ausgangslage mit der subjektiven Realität von Wünschen und Ängsten vermischt. Das heißt: der Autor Dostojewskij phantasiert im Namen seiner fiktiven Person, ohne die Grenze zwischen der objektiven Realität der Ausgangslage und dem aus ihr aufsteigenden »längeren Gedankenspiel« zu markieren.
    Unmittelbares Vorbild für solches Vorgehen war für Dostojewskij Puschkins Erzählung Pique Dame . Auch dort fühlt sich ein junger Mann (Hermann) finanziell abhängig von einer alten Frau (einer siebenundachtzigjährigen Gräfin), die er in ihrem Haus aufsucht und mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen will, ihm die legendären Gewinnkarten zu nennen. Sie aber stirbt im Anblick des jungen Mannes mit der auf sie gerichteten Pistole, ob vor Schreck oder aus Altersgründen

Weitere Kostenlose Bücher