Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
dem Doppelgänger der Romantik Stigma unseres Zeitalters, tritt als Kennzeichen von Bewusstsein überhaupt auf. Und Dostojewskijs Kunstgriff des delegierten Phantasierens erschafft die magische Suggestion, dass sich der Leser im Kopf Raskolnikows befindet, so dass eine geradezu hypnotische Identifikation mit der Situation der Hauptgestalt stattfindet. Ja, der Leser erlebt angesichts der kaltblütigen, mitleidlosen Pfandleiherin seine eigene Fähigkeit zum Bösen, bangt mit Raskolnikow darum, dass ihm die Untat doch gelingen möchte, und will durchaus nicht, dass Raskolnikow als Täter entdeckt wird. Raskolnikows Bewusstsein wird in seiner Zerrissenheit wirklichkeitsschaffend tätig, springt über auf den Leser. Das bedeutet: Innerlichkeit und Außenwelt bringen sich gegenseitig hervor und werden darin eins. Auf die Wünsche und Ängste Raskolnikows reagiert die objektive Realität als perfektes Korrelat: die Innenwelt Raskolnikows ist, so will es Dostojewskij, zur objektiven Realität der Fiktion geworden.
Der Epilog spielt in Sibirien fast anderthalb Jahre nach dem Geständnis Raskolnikows. Fünf Monate nach seinem Geständnis wurde er zu acht Jahren Zuchthaus in Sibirien verurteilt. Noch sieben Jahre wird er also hier mit Sonja verbringen, wie Dostojewskijs imaginärer Erzähler berichtet. Der Albtraum ist zu Ende. Und der Leser weiß jetzt, auf welche Situation sich jene zuvor mehrfach eingestreuten Sätze beziehen, die ein nicht näher gekennzeichnetes »Später« enthalten. So heißt es etwa im sechsten Kapitel des Vierten Teils: »Später, wenn er sich an diesen Augenblick erinnerte, stellte sich ihm alles folgendermaßen dar.« Dostojewskij impliziert damit, dass alles, was Raskolnikow in den sechs Teilen des Romans vor unseren Augen erlebt, als seine Erinnerungsbilder im sibirischen Zuchthaus dargeboten wird, die erst vom imaginären Erzähler chronologisch angeordnet wurden: wiederum eine Welt im Kopf.
Fazit: Die Konstitution dessen, was uns in diesem Roman als unmittelbare Wirklichkeit präsentiert wird, ist also ungewöhnlich komplex. Das soeben gekennzeichnete vorausgreifende Phantasieren der Hauptgestalt, das als solches nur von außerfiktionalem Standpunkt erkennbar ist, überlagert den innerfiktionalen Sachverhalt, dass wir es mit Erinnerungen Raskolnikows im sibirischen Zuchthaus zu tun haben. Bei aller Eingängigkeit des Handlungsverlaufs, die auf die Neugier des ungeduldigen Zeitungslesers abgestellt ist, mutet Verbrechen und Strafe dem reflektierten Leser ein ganz spezielles bewegliches Sehen zu.
Was aber das hier dominierende Verfahren des »delegierten Phantasierens« anbelangt, so steht Verbrechen und Strafe damit in einer Tradition, die von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Marquise de la Pivardiere (1820) bis zum Hollywood-Film reicht. Hervorzuheben ist Fritz Langs Gefährliche Begegnung ( The Woman in the Window , 1944) mit Edward G. Robinson in der Hauptrolle des Professors für Englische Literatur, der im sommerlichen New York einen Ferienkurs durchführt, um sich, als Strohwitwer, etwas dazuzuverdienen. Er lernt auf der Straße eine junge Frau kennen, deren Porträt er im Fenster einer Kunsthandlung gesehen hat, ermordet deren Liebhaber und erwacht am Ende, als die Aufdeckung seiner Tat bevorsteht, im Sessel seines Klubhauses, wo er eingeschlafen war und nun mit Erleichterung feststellt, alles nur geträumt zu haben. Wirklich war nur das Porträt der Frau im Fenster, das sein Gedankenspiel in Gang setzte. Ebenfalls 1944 erscheint Billy Wilders Frau ohne Gewissen ( Double Indemnity , Drehbuch, nach dem Roman von James M. Cain, von Raymond Chandler und dem Regisseur), worin sich dem Angestellten einer Versicherungsagentur in Los Angeles aus seinem beruflichen Alltag die Möglichkeit anbietet, an das große Geld zu kommen: Er erträumt sich, immer noch Junggeselle, eine schöne Frau, die ihren Ehemann loswerden will und sich von ihm eine Lebensversicherung für ihren Mann mit »doppelter Abfindung« im Falle eines tödlichen Unfalls vermitteln lässt. Inzwischen ihr Geliebter, ermordet er mit ihrer Hilfe ihren Ehemann, erschießt sie aber danach, weil sie sich einen neuen Geliebten zugelegt hat. Er selber trägt dabei von ihr eine tödliche Schussverletzung davon und stirbt ebenfalls. Die Kritik sprach anerkennend von »Billy Wilder’s Crime and Punishment .« Auch hier siegt im erträumten Erlebnis, wie bei Dostojewskij und Fritz Lang, das Gefürchtete über das Gewünschte, und
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