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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Dostojewskij nicht aufgepasst). Im vorangehenden Roman, Verbrechen und Strafe , werden uns ständig die geheimsten Gedanken Raskolnikows mitgeteilt.
    Jetzt aber erzählt Dostojewskij mit dem Auge einer (Film-) Kamera, die auch nur »aufnehmen« kann, was im Sichtbaren da ist. So werden Myschkin und Rogoschin vom Erzähler zunächst nur »der Blonde« ( belokuryj ) und »der Schwarzhaarige« ( černovolosyj ) genannt, bis sie sich einander vorstellen, d.h., bis ihre Namen innerfiktional ausgesprochen werden. Erst danach nennt sie auch der Erzähler »Myschkin« und »Rogoschin«. An einigen Stellen allerdings hört der Erzähler auf, pures Auge zu sein, und schiebt Erläuterungen ein, die auf die anstehende Szene vorbereiten sollen: so am Anfang des zweiten Kapitels (über General Jepantschin und seine Familie), so das ganze vierte Kapitel (über die Jepantschins, Afanasij Totzkij und Nastasja Filippowna). Diese beiden Stellen sind aber auch die einzigen (im ersten Teil), in denen der Erzähler bereits zurückliegende Ereignisse referiert – auch dies allerdings immer nur aufgrund von Hinterbringungen, von Gerüchten, aufgrund dessen, was »man« sich erzählt, was also bereits ausgesprochen vorliegt. Ansonsten wird »szenisch« erzählt. Robin Feuer Miller unterscheidet deshalb zwischen dem Erzähler als Beobachter ( narrator-observer ) und dem Erzähler als Chronisten ( narrator-chronicler ). [50]  
    Verkennung
    Verkennung und Verkanntwerden können ganz verschiedene Gründe haben. So kann ich etwa, ganz naiv, jemanden oder eine Situation verkennen, weil ich nicht über die nötigen Informationen verfüge. Ein Hochstapler will ganz gezielt verkannt werden, um damit zu »arbeiten«. Ein Politiker kann seinen Gegner bewusst verkennen, um ihn öffentlich in eine Zwangslage zu bringen. Die verschiedensten Möglichkeiten werden von Dostojewskij durchgespielt, so dass Der Idiot als eine regelrechte Phänomenologie der Verkennung gelesen werden kann.
    Wie wir wissen, haben Dostojewskij während der Abfassung des Romans zwei Gestalten ganz besonders vor Augen gestanden – als Hintergrundfiguren des »Helden«: diese Gestalten sind Christus und Don Quijote. Beide sind der Verkennung ausgesetzt, ja durch sie regelrecht »definiert«. Beide sind positive Helden, absolut gute Menschen. In der Nachfolge Dostojewskijs schrieb Knut Hamsun seinen Roman Mysterien, dessen Held, Johan Nilsen Nagel, ebenfalls dadurch gekennzeichnet wird, dass er von seiner Umwelt verkannt wird und sich immer wieder nicht als der erweist, für den man ihn hält.
    So bilden also das Neue Testament , die Abenteuer des scharfsinnigen Ritters Don Quijote de la Mancha und Knut Hamsuns Mysterien eine literarische Reihe, der auch Dostojewskijs Idiot angehört. Noch andere Texte ließen sich dieser Reihe eingliedern, so etwa die Pickwick Papers von Charles Dickens, die Dostojewskij gut bekannt waren, oder, aus dem 20. Jahrhundert, Walker Percys Roman The Last Gentleman, der im Deutschen den Titel Der Idiot des Südens trägt , weil sich der Übersetzer, niemand anders als Peter Handke, zutiefst an Dostojewskijs Idiot erinnert sah; und natürlich hatte Walker Percy selbst Dostojewskijs Roman gelesen.
    Was den Fürsten Myschkin von all den genannten Protagonisten unterscheidet, ist vor allem seine Epilepsie. Dostojewskij hat in noch zwei weiteren seiner fünf großen Romane jeweils einen Epilepsiekranken dargestellt: nämlich Kirillow in den Bösen Geistern und Smerdjakow in den Brüdern Karamasow. In beiden Fällen ist das Bild, das wir, die Leser, von diesen Gestalten haben, mit deren Krankheit verknüpft. Und doch macht diese Krankheit nicht das Wesen dieser Gestalten aus. Dies aber ist beim Fürsten Myschkin der Fall. Hier ist das Bild, das im Leser entsteht, zentral mit der Epilepsie, an der Myschkin leidet, verknüpft. Das liegt, erzähltechnisch gesehen, daran, dass uns zwei epileptische Anfälle des Fürsten Myschkin unmittelbar geschildert werden, was für Kirillow und Smerdjakow nicht gilt. Aber das ist es ja gerade: durch die anschauliche Prominenz der Epilepsie des Fürsten Myschkin wird diese Krankheit als sein Wesensmerkmal gekennzeichnet, als Resultat provozierter Sittlichkeit, als Resultat des Versuchs einer radikalen Verleugnung der Wirklichkeit des Bösen, die dem Fürsten Myschkin wesensfremd ist. Ja, keine andere der Hauptgestalten Dostojewskijs ist so vom Leiden an der Welt »gezeichnet« wie der Fürst Myschkin.
    Und noch etwas hebt

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