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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Untersuchungsrichter erweist sich Raskolnikow als Meister des logischen Folgerns und der Rhetorik. Eine narzisstische Selbstbespiegelung des Intellekts, der in den Gesprächen mit Sonja die narzisstische Selbsterniedrigung gegenübersteht.
    Daß ausgerechnet Swidrigajlow, der Raskolnikows Schwester nachstellt, Raskolnikows Geständnis gegenüber Sonja auf Lauschposten hinter der Tür zum Nebenzimmer mithört, ist eine Albtraumsituation par excellence . Eine geradezu phantastische Konstruktion. Dunja ist nun in der Gefahr, erpresst zu werden. An seiner Schwester, so weiß Raskolnikow, wird aber Swidrigajlow seinen Meister finden. Mit einem dreischüssigen Revolver drückt sie zweimal auf ihn ab – die erste Kugel geht daneben, die zweite löst sich nicht aus dem Lauf, mit der dritten aber erschießt sich Swidrigajlow schließlich selbst, nachdem Dunja ihn verschonte. Die melodramatische Konsequenz moralischer Fügung erfordert es, dass dieser Revolver Marfa Petrowna gehört hat, die von Swidrigajlow umgebracht wurde.
    Swidrigajlow als Setzung des phantasierenden Raskolnikow sorgt dafür, dass sich dieser gegen einen echten Schurken selbstgerecht abgrenzen kann, einen Schurken, wie er im Buche steht, der noch Gott weiß was alles auf dem Kerbholz hat. Im sibirischen Zuchthaus wiederum bleibt Raskolnikow mürrisch, denn so einfach will er sich von dem, was er von sich hielt, nicht verabschieden lassen, und so träumt er davon, dass es außergewöhnliche Menschen, auf die nicht verzichtet werden kann, sehr wohl gibt: nur hat sie bislang keiner gesehen und niemand ihre Stimme gehört.
    Man beachte auch, dass das von Raskolnikow in der Realität mitgehörte Gespräch zwischen einem Studenten und einem Offizier über die zu ermordende und auszuraubende Wucherin in seinem Traumspiel dafür sorgt, dass dreimal zwei Männer mit dem Tatort in Verbindung gebracht werden: zunächst Koch und Pestrjakow, zwei Kunden der Wucherin, dann Dmitrij und Nikolaj, die Anstreicher aus der darunterliegenden Wohnung. Alle vier werden der Tat verdächtigt und lenken damit von Raskolnikow ab. Später trifft Raskolnikow zwei andere Anstreicher in der inzwischen ausgeräumten Wohnung der Wucherin, Tit und Aljoscha, und macht sich nun selber verdächtig. Um Dachkammer und Tatort rankt sich die Logik des Traumspiels.
    Was aber ergibt sich aus dem Nachweis, dass Dostojewskij mit Verbrechen und Strafe einen Roman präsentiert, der in seinem wesentlichen Verlauf als Phantasieleistung der Hauptgestalt konzipiert wurde? Zweifellos kein Erkenntnisgewinn, was den wörtlichen Sinn des Romans anbelangt. Der Erkenntnisgewinn betrifft vielmehr die Begründung der immensen Popularität dieses Werks. Verbrechen und Strafe ist nicht nur der populärste aller Romane Dostojewskijs, sondern ganz offensichtlich auch der bekannteste russische Roman überhaupt (im deutschen Sprachraum insbesondere unter dem Titel Schuld und Sühne ). Die in diesem Roman beschworenen Situationen zeichnen sich durch eine geradezu magische Suggestivität aus. Um dem Geheimnis solcher Suggestion auf die Spur zu kommen, wäre ein pauschaler Hinweis auf die Erzählkunst Dostojewskijs zwar durchaus nicht falsch, bliebe aber eine unbestimmte Bestimmtheit. Ein anderes Argument läge darin, dass Dostojewskij mit keinem seiner übrigen Werke so die Nähe zur Trivial-Literatur gesucht hat wie mit Verbrechen und Strafe . Ein Mörder und eine Prostituierte als Helden (die auch noch gemeinsam die Bibel lesen), ein Rechtsanwalt als Schurke und ein Gutsbesitzer als Unhold, die sich beide an unschuldige Mädchen heranmachen, ganz zu schweigen von der ungeheuren Grausamkeit eines Doppelmords mit einem Beil, der aus nächster Nähe im Detail geschildert wird – da lässt sich als Zielgruppe der sensationslüsterne Zeitungsleser, der wohl niemals ausstirbt, nicht leugnen. Eine pure Aufzählung solcher Eigenheiten reicht jedoch nicht aus, um die Wirkung dieses Romans zu erklären.
    Es ist die Ausrichtung solcher Elemente und ihre Zentrierung in einer profilierten Subjektivität, die hier zu beachten sind. Dostojewskij realisiert mit Verbrechen und Strafe offensichtlich die geheimsten Wünsche und die geheimsten Ängste des gesitteten Staatsbürgers. Es ist das Unbehagen angesichts der Despotie der Wohlanständigkeit, das sich hier explosiv Bahn bricht. Der wüste Traum von der plötzlichen Exkursion ins Kriminelle sucht sich zudem den Vorzugsort moderner Verzweiflung: die Großstadt. Gespaltenheit, seit

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