Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
werden. Der Personenbestand, den die Begegnung mit dem alten Marmeladow anliefert, und der Personenbestand, den ihm der Brief seiner Mutter vor Augen führt, werden vom phantasierenden Raskolnikow zu Ritualen der Selbstbespiegelung arrangiert: mit seiner persönlichen Zwangslage gegenüber der Wucherin als treibender Kraft.
Dostojewskij lässt uns, sobald wir die geforderte Blickeinstellung vollzogen haben, an einem Schauspiel eigener Art teilnehmen. Dieses Schauspiel ist nur von außerfiktionalem Standpunkt sichtbar. Und das heißt: dem naiven Leser (von Dostojewskij kalkuliert gehätschelt) wird durchaus nicht das Vergnügen genommen, sich »unverdrossen ans Erzählte« zu halten (wie es einst Adorno formuliert hat). Vom reflektierten Leser jedoch lässt sich Dostojewskij in die Karten blicken, indem er Signale anbringt, die das Erzählte als Phantasieleistung der Hauptgestalt kenntlich machen.
Wie aber sieht Raskolnikows Traumspiel in concreto aus? Von welchen Mechanismen wird sein Phantasieren beherrscht? Man darf sagen, dass sein Wille zum kriminellen Triumph über die eigene Notlage durch Gewissensangst frustriert wird. Das schlechte Gewissen vereitelt bereits die astreine Realisierung des zentralen Wunschzieles. Raskolnikow malt sich das Schlimmste aus, was überhaupt passieren kann: Lisaweta erscheint an der Mordstätte und muss ebenfalls umgebracht werden. Und das große Geld bleibt unauffindbar. Die kärgliche Beute, die er macht, schafft er sich als potentielles Beweismaterial schleunigst vom Halse. Die Selbststigmatisierung zum Mörder kostet er mit Schauder aus. Wie schrecklich, so etwas getan zu haben! Immerhin aber ist sein Verbrechen ein perfektes Verbrechen, und er erlaubt sich im Umgang mit der ermittelnden Polizeibehörde schließlich ausgesuchte Frechheiten. Zu allem Überfluss aber müssen ausgerechnet jetzt Mutter und Schwester anreisen, die nicht ahnen können, was ihr Rodja inzwischen angestellt hat. Auch das Entsetzen des biederen und hilfsbereiten Freundes Rasumichin wird goutiert.
Raskolnikow phantasiert in seiner engen Dachkammer, wo er mit grippalem Infekt auf seinem ungemachten Bett einschläft, und sein enges Zimmer wird ihm zum Mittelpunkt der Welt, ist der immer wiederkehrende feste Ort seines Träumens. Wer tritt nicht alles über die Schwelle zu ihm herein: Nastasja und Rasumichin und der Arzt Sossimow, das ist klar, aber auch Luschin, der Rechtsanwalt, Sonja, die Prostituierte, Swidrigajlow, der Gutsbesitzer, ja sogar der Mann, der ihn Mörder nannte, und schließlich noch der Untersuchungsrichter – von Mutter und Schwester ganz zu schweigen. Sie alle und noch mehr pilgern zu seinem überforderten Ich, vier Treppen hoch, bis ganz nach oben unters Dach.
Noch in Puschkins Pique Dame (1834) waren es die Träumereien eines einsamen Spaziergängers, der sich nachts vor einem hell erleuchteten Haus, das er einer Gräfin zuordnet, sein Spielerglück erhofft. Jetzt, in Verbrechen und Strafe (1866/67), ist aus Petersburg eine »stinkende Stadt« geworden, wo im Sumpf der Armut die Blumen des Bösen sprießen und der (Ex-)Jurastudent Raskolnikow in einem Zimmer, so klein, »dass er den Türhaken öffnen konnte, ohne sein Bett zu verlassen«, seinen Fiebertraum träumt, durch einen Raubmord die soziale Gerechtigkeit herzustellen. Eine heroische Phantasie mit allem, was dazu gehört.
Zu Sonja, der Prostituierten, setzt sich Raskolnikow in ein ausgesprochen sentimentales Verhältnis. Er ist es, der sie als moralische Person anerkennt und sie durch sein Geständnis ehrt. Die Äußerung des Erzählers über den Mörder und die Hure, die sich über der Lektüre des Ewigen Buches so sonderbar zusammengefunden haben, geht jetzt auf das Konto des träumenden Kitsch-Menschen, der auch gewisse Details des Epilogs zu verantworten hat. Vor Gericht stellt sich nämlich heraus, dass Raskolnikow, als er noch an der Universität studierte, mit seinen letzten Mitteln einem armen schwindsüchtigen Kommilitonen geholfen hat. Ja, als dieser starb, kümmerte er sich um dessen gelähmten Vater, brachte ihn in ein Krankenhaus und sorgte, als auch er starb, für ein anständiges Begräbnis. Nicht genug damit: Raskolnikow hat zudem zwei kleine Kinder aus einem brennenden Haus gerettet und dabei Brandwunden erlitten. Man sieht: Nach der Selbststigmatisierung durch Vollzug einer doppelten Untat verleiht sich das träumende Bewusstsein die Attribute des edlen Helfers.
In den Gesprächen mit dem
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