Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
lässt Puschkin offen. Nach ihrem Tode erscheint sie Hermann im Traum und nennt ihm die Gewinnkarten Drei, Sieben, Ass. Er geht in einen neu eröffneten exquisiten Spielklub in Petersburg; gewinnt zweimal hintereinander, beim dritten Mal setzt er erneut auf seine Karten, zieht aber aus Versehen statt des Ass die Pique Dame, hat damit alles verloren und kommt ins Irrenhaus. So viel in aller Kürze zum Inhalt. Der Beginn der Erzählung zeigt uns Hermann während einer langen Winternacht im Kreise seiner Kameraden, denen er beim Kartenspiel zusieht, ohne jemals selbst eine Karte in die Hand zu nehmen: hier hört er die Anekdote von den drei Karten, die das Spielerglück garantieren. Das legendäre Geheimnis, ein Vermächtnis des abenteuerlichen Grafen Saint-Germain, werde, so heißt es, von einer inzwischen uralten russischen Gräfin gehütet, die sich in diesem Punkt sogar gegenüber ihren zahlreichen Nachkommen hartnäckig ausschweige und auch selber von diesem kabbalistischen Wissen keinen Gebrauch mache. Hermann wird von dieser Anekdote nachhaltig in Unruhe versetzt. Er stellt sich vor, die Gunst der Gräfin zu erringen und ihr das Geheimnis zu entlocken. Während eines einsamen Spaziergangs durch das abendliche Petersburg denkt er unablässig über die Möglichkeit plötzlichen Reichtums nach, und es setzt jene Erlebniskette ein, die Puschkin in unverkennbarer Analogie zum Tagtraum anlegt. Vor einem hell erleuchteten altertümlichen Gebäude bleibt Hermann stehen. Der Zufall hat ihn ausgerechnet vor das Haus der geheimnisvollen Gräfin geführt, das ihn allerdings in unzugänglicher Festlichkeit anblickt.
Mit dieser Zuordnung hat bereits der Tagtraum eingesetzt, ohne dass der Text uns darauf aufmerksam machen würde. Hermann denkt sich aus, sich mit der gewiss existierenden Pflegetochter der Gräfin anzufreunden, um Zutritt zu finden, und so geschieht es denn auch. Kurzum: Dostojewskijs Roman Verbrechen und Strafe ist regelrecht durchtränkt von Puschkins Erzählung Pique Dame . Sogar die Selbstidentifikation Hermanns mit Napoleon fehlt bei Puschkin nicht. Wenden wir uns nun dem Traumspiel Raskolnikows zu. Im Roman erwacht Raskolnikow aus seinen Phantasien, als er plötzlich eine Uhr schlagen hört. Hektisch springt er auf und macht sich ans Werk. »Sieben Uhr ist längst vorbei«, hört er draußen jemand rufen. Es folgt die Tat.
Folgende Überlegung ist nun anzustellen. Raskolnikow ist aus seinen Phantasien kurz vor der Tat gar nicht erwacht. All das, was nach Schlag 7 Uhr passiert, ist Traumgeschehen, einschließlich des Epilogs. Raskolnikow erwacht erst, als der Roman zu Ende ist. Darüber aber sagt der Text nichts.
Das sich mit den Kapiteln eins bis fünf des Ersten Teils anbahnende Geschehen wird von Raskolnikow im Traum zu Ende gedacht, zu Ende phantasiert – in einem unruhigen Zustand zwischen Nachttraum und Tagtraum. Auf diesen Traum Raskolnikows lässt sich genau jene Überlegung in Anschlag bringen, mit der sein »furchtbarer Traum« vom zu Tode geprügelten Pferd eingeleitet wird: dass sich nämlich die Träume eines Menschen im Zustand der Krankheit durch besondere Anschaulichkeit, durch außergewöhnliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit auszeichnen und dabei eine ästhetische Geschlossenheit aufweisen, wie sie der Träumer im Wachzustand nicht herzustellen vermöchte, »wäre er auch ein Künstler wie Puschkin oder Turgenjew«. Der Traum, den Dostojewskij damit kennzeichnet, ist ein Kunstwerk eigener Art!
Und ein solches Kunstwerk ›erträumt‹ Raskolnikow ein zweites Mal, als er Schlag 7 Uhr abends nicht erwacht, sondern weiterphantasiert. Alles, was nun tatsächlich geschieht, einschließlich Epilog, wird von Dostojewskij wie ein Gedankenspiel Raskolnikows angelegt.
Sobald wir uns auf diese Überlegung einlassen, bekommt Verbrechen und Strafe ein ganz überraschendes Aussehen. Alles, was wir nach Schlag 7 Uhr thematisch präsentiert bekommen, ist nun als Setzung Raskolnikows aufzufassen, denn er ist das träumende Bewusstsein, das auf die objektive Realität, wie sie in den ersten fünf Kapiteln des Ersten Teils vorliegt, mit einer Traumwelt antwortet, in der sich objektive und subjektive Realität vermischen. Die Geschehnisse der ersten fünf Kapitel liefern der Phantasietätigkeit Raskolnikows die Bausteine, mit denen er dann ein ausgesprochen narzisstisches Spiel treibt.
Warum ist dieses Traumspiel narzisstisch zu nennen? Weil Aggression und Zerknirschung exhibitionistisch gefeiert
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