Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Zeile von Dostojewskij gelesen und würde fragen, was er denn als Erstes lesen solle, um diesen Meister aus Russland sofort richtig kennenzulernen, so könnte man aus mehreren Gründen den ersten Teil des Romans Der Idiot empfehlen. Nicht nur schildert dieser erste Teil auf zweihundert Seiten nur einen einzigen Tag und ist damit als der längste Tag in Dostojewskijs Romanen das Musterbeispiel für die in ihnen insgesamt typische Dehnung der Zeit, auch wird hier die für Dostojewskij charakteristische Ansammlung vieler Personen auf engstem Raum immer wieder zum Merkmal der Handlung. Die Personen befinden sich dabei allesamt in einem physio-psychischen Ausnahmezustand.
So beginnt der Roman in einem dichtbesetzten Eisenbahnwaggon dritter Klasse, der gegen neun Uhr früh aus Warschau in Petersburg einläuft. Alle Reisende wirken verschlafen, die Nacht lastet auf den Lidern, alle frösteln, und auf den Gesichtern liegt »das fahle Blassgelb des Nebels«. Es ist November.
Somerset Maugham hat in seinem Tagebuch von 1917 die für Dostojewskij typische Atmosphäre treffend zusammengefasst: »Ich wünschte, jemand würde Dostojewskijs Technik analysieren. Ich habe den Eindruck, daß seine Wirkung vor allem auf seiner eigenartigen Methode beruht, obwohl die Leser dies nicht bemerken. Manche sagen, daß seine Erzähltechnik unbedeutend sei, aber dieses Urteil trifft nicht zu, er ist zweifellos ein vorzüglicher Erzähler und wendet bestimmte Kunstgriffe mit großem Geschick an. Einer seiner Lieblingstricks, den er ständig anwendet, besteht darin, daß er die Hauptfiguren seiner Geschichte zusammenbringt und sie über ein Geschehnis so erregt diskutieren läßt, daß man nichts versteht […]. Diese langen Gespräche sind von einer atemberaubenden Spannung, und er steigert diesen Reiz durch eine ingeniöse List: Die Erregtheit seiner Charaktere steht im Mißverhältnis zu dem, was sie sagen; er zeigt sie uns zitternd vor Aufregung, grün im Gesicht oder bleich vor Angst, von Entsetzen gelähmt, so daß die gewöhnlichsten Worte eine dem Leser unbegreifliche Bedeutung annehmen; und unversehens gerät der Leser derart in den Bann dieser extravaganten Gesten, daß seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind und er so weit ist, einen echten Schock zu erleiden, wenn etwas passiert, was ansonsten kaum sein Gemüt bewegt hätte. Eine unerwartete Person tritt ein, eine Nachricht wird überbracht …« [49]
Man denke nur an die sich steigernde Skandalszene, als Rogoschin mit seinem zwielichtigen Gefolge auf Nastasja Filippownas Geburtstagsfeier erscheint. Doch gehen wir ins Detail.
Welche Aufgabe hat sich Dostojewskij im ersten Teil seines Romans Der Idiot gestellt? Der gesamte erste Teil spielt, wie soeben erwähnt, an einem einzigen Tag. Es ist, das steht im Text, Mittwoch, der 27. November 1867. Schauplatz der Handlung ist Petersburg. Dieser erste Teil hat sechzehn Kapitel. Sie schreiten in chronologischer Folge den 27. November 1867 ab: von neun Uhr morgens bis Mitternacht.
Man beachte den ersten und letzten Satz des ersten Teils. Der erste Satz lautet: »Ende November, es war Tauwetter, eilte der Zug der Petersburg-Warschauer Eisenbahn mit Volldampf auf Petersburg zu.« Und der letzte Satz des ersten Teils lautet: »Und Afanasij Iwanowitsch seufzte tief auf.« Das heißt: Dostojewskij lässt seinen Roman mitten in einem schon im Gange befindlichen Geschehen beginnen und den ersten Teil mitten in einer Szene enden. Es werden uns, grundsätzlich gesehen, Großaufnahmen, ja Ausschnittvergrößerungen eines laufenden Geschehens geboten. Dieses laufende Geschehen wird zwar innerhalb der gezeigten Ausschnitte im Detail geschildert, nicht aber sein Kontext. Den Zusammenhang, das Ganze, von dem der dargebotene Ausschnitt ein Teil ist, müssen wir erschließen. Durch solche für Dostojewskij typische Technik der Präsentation wird die Neugier des Lesers geweckt und dann nach Belieben befriedigt oder (zunächst einmal) unbefriedigt gelassen.
Dostojewskij arbeitet im Idioten mit einem imaginären Erzähler, der die Menschen und Ereignisse wie das Auge einer Kamera erfasst. Dieser Erzähler kann nur »von außen« schildern; Gefühle, die eine Person hat, müssen sich zeigen, müssen sich äußern, damit sie erzählt werden können. Im ganzen ersten Teil wird keine Person »von innen« geschildert – etwa durch Protokollierung ihrer unausgesprochenen Gedanken (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die so wirken, als hätte
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