Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Freuds soll durch solche Erinnerung allerdings nicht ins Spiel kommen. Es geht vielmehr um die Einsicht Ernst Blochs, der »Ödipusstoff« sei der »Urstoff des Detektorischen schlechthin«. Bloch expliziert diese Einsicht bezeichnenderweise in einer Abhandlung mit dem Titel Philosophische Ansicht des Detektivromans . [111] In den Brüdern Karamasow hat Dostojewskij, auf den Bloch nicht Bezug nimmt, diesen Urstoff zweifellos ganz auf seine Weise genutzt. Der delphische Imperativ »Erkenne dich selbst!« wird jetzt in Skotoprigonjewsk (= Viehhofen) vollstreckt.
Dostojewskij gibt auf die Frage »Wie kommt das Böse in die Welt?« eine eindeutige Antwort: »Weil es vom Menschen gewollt wird.« Diese Antwort ist aber nur auf dem Boden einer ganz bestimmten anthropologischen Prämisse möglich, die Dostojewskij seiner dichterischen Phantasie unterlegt. Aufgrund dieser Prämisse sind etwa Naturkatastrophen, bei denen Menschen zu Tode kommen, für Dostojewskij nicht darstellbar. In seinem fiktionalen Universum, wie es uns in seinen fünf großen Romanen vorliegt, gibt es nur den »Wahnsinn des Eigendünkels« (mit Hegel gesprochen) als die treibende Kraft zwischenmenschlicher Konflikte, die ganz und gar aus der Bosheit und der Niedertracht dessen bestehen, was Menschen einander zufügen. Damit das Böse Wirklichkeit werden kann, muss es von einem Individuum hier und jetzt eigens gewünscht werden und in einen Tatentschluss einmünden. Ohne Tatentschluss und seine gedankliche Vorbereitung gäbe es nichts Böses in der Welt. Nur in diesem Medium, dem »Wahnsinn des Eigendünkels«, hat Dostojewskijs Theodizee ihren Ort. Konkret gesprochen: Für den 11. September 2001 in New York ist Dostojewskij als künstlerische Intelligenz zuständig, nicht aber für das Erdbeben in Japan vom März 2011.
Erst wenn die Frage verstanden wurde, auf die die Brüder Karamasow eine Antwort sind, lässt sich die Architektonik dieses Romans als Eigentümlichkeit der gestalteten Sache begreifen und hört damit auf, nur abstrakte Form zu sein. Die Architektonik der Brüder Karamasow erfassen heißt also die von Dostojewskij gestaltete Sache erfassen.
Das Herz der Finsternis
Die Brüder Karamasow haben ihren spannungstechnischen und gedanklichen Brennpunkt im vierten Kapitel des Achten Buches. Dieses Kapitel heißt »Im Dunkeln« ( V temnote ) und gipfelt in einer leeren Zeile, die im russischen Original durch hintereinandergestellte Punkte ausgefüllt wird (PSS, Bd. 14 S. 355, Zeile 14). Diese ausgesparte Zeile ist, so möchte ich sagen, die wichtigste Zeile in den Brüdern Karamasow.
Alles, was vorher erzählt wird, dient der Vorbereitung dessen, was diese Leerzeile verschweigt. Alles, was nachher geschieht, dient der Aufklärung dessen, was diese Leerzeile verschweigt. Was hier im Dunkeln geschieht, ohne daß es uns erzählt wird, als es geschieht, enthält die entscheidende Pointe der gesamten Konstruktion Dostojewskijs: den Hiat im Handeln Dmitrijs, sein plötzliches Nichthandeln trotz bereits gezückter Tatwaffe, wodurch der Weg frei wird für Smerdjakows Handeln: So vollzieht sich die Pointe der Brüder Karamasow im Dunkeln, signalisiert durch eine Leerzeile, in die der Text gleichsam abstürzt und sich auflöst.
An der spannendsten Stelle lässt der Erzähler seine Erzählung abbrechen. Wir, die Leser, sehen uns plötzlich mit einer Lücke im Erzählten konfrontiert. Handelt es sich um ein Verstummen des Erzählers angesichts des Schrecklichen, angesichts der Ermordung Fjodor Karamasows, die sich im nächsten Augenblick vollziehen soll? Wäre es so, dann hätten wir es mit einer »Aposiopese« (= Verstummen) zu tun. Eine solche Lesart der Leerzeile scheidet jedoch aus.
Mit der Leerzeile macht uns Dostojewskij auf das Geheimnis der Freiheit aufmerksam. Im Dunkeln findet, wie der Leser später erfährt, eine Rollenübergabe statt: Smerdjakow schlüpft in die plötzlich verwaiste Rolle des Täters, die Dmitrij bereitgestellt und zurückgelassen hat. An dieses Geschehen verweist uns die Leerzeile. Sie will aus späterer Sicht ausgefüllt werden.
Die poetologische Antwort auf die Frage, warum Dmitrij seinen Vater nicht umbringt, obwohl er sich bis zum Tatentschluss vorgewagt hat, ist nur der Konstruktion des Ganzen zu entnehmen. Diese Antwort zeigt sich nur in jenem Anblick des Ganzen, der innerfiktional nicht vorkommt. Vom außerfiktionalen Standpunkt bilden die drei Brüder Karamasow mit Smerdjakow eine einzige Person, innerhalb
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