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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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dem Resultat einer falschen Zuordnung des Täters. Dostojewskij lässt die Wahrheit des Chronisten zusätzlich durch die Falschaussage des Dieners Grigorij innerfiktional vollends unkenntlich werden. Solche Unzugänglichkeit der Wahrheit für die Öffentlichkeit benötigt Dostojewskij, um unter der scheinbaren Ungerechtigkeit des Weltlaufs die verborgene Wahrheit aufleuchten zu lassen: als »Vernunft in der Geschichte« (mit Hegel gesprochen). Dostojewskijs Theodizee besteht nicht aus den verbalen Äußerungen religiöser Gestalten, sondern im Verlauf der Ereignisse.
    Wie kommt das Böse in die Welt?
    Der Text der Brüder Karamasow bietet als »Sache«, die zum Durchlesen da ist, einen ganz bestimmten »Anblick«: den Anblick nämlich des Nacheinanders der geschilderten Sachverhalte. Dieser Anblick enthält die Architektonik des Romans. Es ist der Anblick, den die Welt der Dichtung als eine von einem Autor gemachte Sache innerhalb unserer Welt bietet, innerhalb der Welt, in der wir lesen. Während der Lektüre eines literarischen Textes sind wir in ständigem Wechsel jeweils »drinnen« und »draußen« – drinnen, d.h. bei den Sachverhalten, von denen die Rede ist, und draußen, d.h. in unserer Welt, aus der sich die Welt der Dichtung als »Komposition« ihres Autors zu erkennen gibt.
    Dostojewskij hat den letzten seiner fünf großen Romane mit einem detaillierten Inhaltsverzeichnis versehen, mit zahlreichen Überschriften, was im Hinblick auf die »großen Fünf« nur noch für die Bösen Geister festzustellen ist. Verbrechen und Strafe , Der Idiot und Ein grüner Junge haben keine Überschriften, sondern nur nummerierte Teile und Abschnitte. Die Überschriften in den Brüdern Karamasow lassen den spielerischen Sinn des Erzählers erkennen, eines Chronisten, der sich selber auch Autor nennt, ohne sich damit aber als den Urheber (auctor) der Fiktion zu kennzeichnen, denn er will ja nur das schildern, was sich wirklich zugetragen hat, so zumindest sieht Dostojewskijs poetische Unterstellung aus. Joseph Warren Beach hat diesen Chronisten treffend als »einen älteren Herrn aus unserem Klub mit einem genialen Spürsinn für Gerüchte« gekennzeichnet. [110]  
    Die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses der Brüder Karamasow läßt die Architektonik des Romans auf besonders greifbare Weise hervortreten. Gemeint ist allerdings eine Lektüre post festum , nicht ante festum : Abstraktion und Einfühlung eines Lesers, der das Inhaltsverzeichnis der Brüder Karamasow betrachtet, nachdem er den Roman durchgelesen hat und nun alles noch einmal Revue passieren lässt – wie die Bilder einer Ausstellung, mit der »Promenade« der Reflexion dazwischen. Erst nach abgeschlossener Lektüre zeigt sich der Autor am Werk.
    Die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses ist unter der angegebenen Bedingung ihrer Nachträglichkeit ein Verständnisprozess eigener Art: nicht bloße Wiederholung dessen, was bereits verstanden wurde, sondern eine Wiederholung, die sich den Prozess des Verstehens selber in seiner Chronologie eigens vor Augen bringt. Die bereits verstandene Welt der Brüder Karamasow wird in der Reihenfolge ihrer Darstellung rekapituliert. Diese Reihenfolge hat ihr Protokoll im Inhaltsverzeichnis. Die Überschriften sind nun »Stichworte« für die erneute Vergegenwärtigung alles dessen, was erzählt wurde. In dieser erneuten Vergegenwärtigung aber ist erst der vollständige Anblick mit da, den das Erzählte vom außerfiktionalen Standpunkt bietet.
    Solche Rekapitulation darf aber nicht Topographie bleiben, sondern muss Topologie werden. Die Architektonik der Brüder Karamasow herausarbeiten heißt nicht nur beschreiben, wie dieser Roman »gebaut« ist, sondern auch sagen, warum er so und nicht anders gebaut ist. Es kommt also darauf an, die Frage zu sehen, auf die die Konstruktion Dostojewskijs eine Antwort ist. Diese Frage lautet: »Wie kommt das Böse in die Welt?« Als Antwort demonstriert uns Dostojewskij die sich jeweils detektivisch vollziehende Selbsterkenntnis der drei Titelgestalten angesichts der Ermordung ihres Vaters. Auf der Suche nach dem Täter finden die drei Brüder – sich selbst! Jeder von ihnen hat dazu beigetragen, dass Smerdjakow gemordet hat. Jeder von ihnen hätte verhindern können, dass Smerdjakow tätig wurde. So vollzieht das Kollektiv der Brüder Karamasow die Sinnbewegung des König Ödipus, der den Mörder seines Vaters suchte und sich selber fand. Das hinlänglich bekannte Deutungsschema Sigmund

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