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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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deren, zerlegt in vier Komponenten und Phasen, die Genese des Bösen dargestellt wird. Der böse Wunsch hat drei Phasen zu durchlaufen, um Wirklichkeit zu werden. Er wird zunächst abgewiesen (Alexej), sodann insgeheim bejaht (Iwan) und gelangt nun in die offene Bejahung, den Tatentschluss (Dmitrij). Wenn der Tatentschluss vorliegt, tritt Smerdjakow, das Werkzeug des Teufels, in Aktion und stellt die Wirklichkeit des Bösen her. Iwan stellt Smerdjakow als das Werkzeug des Teufels zwar bereit, Dmitrijs Tatentschluss aber muss hinzukommen, damit das Werkzeug des Teufels seinen Dienst tut. Es kommt darauf an, die Abhängigkeit Smerdjakows von Dmitrij zu sehen. Sie wird innerfiktional dadurch veranschaulicht, dass Smerdjakow den Mord in der Rolle Dmitrijs ausführt, sich bei jedem Schritt überlegt, was Dmitrij wohl an seiner Stelle getan hätte. Die poetologische Begründung für solche Veranschaulichung besteht darin, dass der Tatentschluss von Dmitrij auf Smerdjakow automatisch überzuspringen hatte, weil nur so die ontologische Abhängigkeit der Wirklichkeit des Bösen vom offenen Bekenntnis zu ihr demonstriert werden konnte. Die Leerzeile markiert die Anschlussstelle. Die Exekutive des Bösen ist, so Dostojewskij, des Teufels, und deshalb steht »Smerdjakow« in keinem anerkannten Verwandtschaftsverhältnis zu seinen Brüdern. Er ist keine Komponente des Menschen als einer sittlichen Person, sondern gehört dem Teufel, ist Werkzeug des Teufels, Delegierter des Teufels, dies aber, als innerfiktionales Individuum, aus freien Stücken!
    Alle Versuche, in Iwan den Hauptschuldigen zu sehen und Dmitrij als das unschuldige Opfer des verwerflichen Laufs der Dinge aufzufassen, verfehlen die Intention Dostojewskijs. Der Justizirrtum ist kein Störfall im Heilsgeschehen, sondern der Vollzug des Heilsgeschehens. Dass Staatsanwalt, Verteidiger und Geschworene die vom Erzähler in Anschlag gebrachte satirische Optik sehr wohl verdienen, belegt nur die insgeheime Allgegenwart der Vernunft in dieser Geschichte. Noch die dumpfen Vorurteile der Geschworenen stehen im Dienst der sich vollziehenden wahren Gerechtigkeit. Und nur deshalb kann Dmitrij seine Verurteilung am Ende akzeptieren. Er kann die höhere Gerechtigkeit, die sich in diesem Fehlurteil ausspricht, nicht leugnen. Dass sich ein Justizirrtum juristisch nicht rechtfertigen lässt, ist eine ganz andere Sache.
    Dmitrij schafft sich sein Schicksal selbst. Es ist das Resultat seiner Gesinnung. Das Böse, so Dostojewskij, bleibt darauf angewiesen, vom Menschen offen bejaht zu werden, um Wirklichkeit werden zu können. Ohne Dmitrij kein Mord. Alexejs Rückzug von der Welt reicht nicht aus, um die Wirklichkeit des Bösen herzustellen, aber auch die Freisetzung des Täters durch Iwan nicht. Erst der Tatentschluss Dmitrijs löst die Wirklichkeit des Bösen aus. Und dadurch wird auch der Anteil Alexejs und Iwans an dieser Wirklichkeit fixiert. Das Resultat schärft erst den Blick für die Eigenart der Genese.
    Konkret gesagt: Die Architektonik der Brüder Karamasow ergibt sich aus der Frage nach dem Täter, die hier auf ungewöhnlichste Weise beantwortet wird. Nicht der tatsächliche Mörder ist der wahre Mörder, sondern das Kollektiv der drei Titelgestalten, die dem tatsächlichen Mörder die Möglichkeit bereitgestellt haben, in Aktion zu treten – mit Dmitrij an der Spitze.
    Ehe nun Näheres zur Architektonik der Brüder Karamasow gesagt wird, sei ein kurzes Wort zur innerfiktionalen Begründung der Leerzeile eingefügt. Die plötzliche Lücke im Erzählten blockiert unsere Einfühlung, um uns mit aller Deutlichkeit klarzumachen, dass wir es mit der Perspektive Dmitrijs, des späteren Angeklagten, zu tun haben. Im Augenblick höchster Spannung, mitten im Jetzt, ja im »Jetzt-Jetzt« (wie Heidegger sagen würde), hört der Erzähler auf zu erzählen. Auf den ersten Blick scheint das unfair zu sein, denn der Erzähler weiß ja doch schließlich, wie es wirklich gewesen ist. Und doch ist ihm hier Fairness zu bescheinigen, auch wenn er seinen Leser regelrecht auf die Folter spannt. Man darf nämlich nicht vergessen, dass uns Dostojewskijs Chronist die Wahrheit über die Brüder Karamasow als eine Collage aus seinen ganz persönlichen Eindrücken und seinen systematischen Recherchen präsentiert. Das »glatte« Erzählen in der dritten Person täuscht über diese Prämisse immer wieder hinweg. Die absolute Gewissheit aber dort herzustellen, wo sie benötigt wird, gelingt

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