Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
erzählt sein Werk aus der Sicht eines Chronisten, der sich uns als ein persönlicher Bekannter der Hauptgestalten vorstellt. Aus einer Distanz von dreizehn Jahren werden die Geschehnisse einiger weniger Tage des Jahres 1866 zu Protokoll gegeben. Solche Zusammenballung der wesentlichen Ereignisse auf nur wenige Tage ist typisch für Dostojewskijs Kunst. Es wird dadurch möglich, physio-psychologische Ausnahmezustände in aller Ausführlichkeit darzustellen. Man denke etwa an die Fieberzustände Iwan Karamasows, die zu Halluzinationen und schließlich zu seinem physischen Zusammenbruch führen, durch den Dostojewskij den Zusammenbruch eines falschen Bewusstseins veranschaulicht. Die großen Romane Dostojewskijs erfordern bezüglich ihres zeitlichen Aufbaus eine ganz besondere Aufmerksamkeit: Hinweise auf die körperliche Verfassung der Gestalten bleiben über Hunderte von Seiten in Kraft, da die Zeit systematisch zerdehnt wird. Von den insgesamt zwölf Büchern der Brüder Karamasow schildern die ersten neun nach einer expositionsartigen Einführung nur dreieinhalb aufeinanderfolgende Tage Ende August des Jahres 1866. Die Geschehnisfolge beginnt an einem »wunderschönen, warmen und klaren Tag« und endet schließlich mit der Verhaftung Dmitrijs in den regnerischen Morgenstunden des vierten Tages. – Die Ereignisse des zehnten und elften Buches fallen auf einen Sonntag Anfang November desselben Jahres. Das zwölfte Buch beschreibt die Gerichtsverhandlung am nachfolgenden Montag. Der Epilog schließlich skizziert den fünften Tag nach Dmitrijs Schuldigsprechung.
Man sieht: Der Chronist erzählt chronologisch, so dass der Eindruck einer mitlaufenden Kenntnis der erzählten Ereignisse entsteht. Dieser Eindruck aber trügt. Der Chronist berichtet nicht vollständig über die Art und Weise, auf die er in Kenntnis der berichteten Ereignisse gelangt ist. Nur bei der Gerichtsverhandlung ist er als Augenzeuge mit dabei (Buch XII). Außerdem betont er sein besonderes Verhältnis zu Alexej Karamasow, den er ja seinen Helden nennt. So ist das ganze Sechste Buch (»Der russische Mönch«), das uns den Starez Sossima, seine Lehren und sein Leben schildert, von Alexej schriftlich überliefert worden.
Kurzum: Der Chronist rekonstruiert nach dreizehn Jahren seinen Bericht über Ereignisse des Jahres 1866. Dabei müssen wir die drei Brüder Karamasow als die maßgeblichen Zuträger ansehen: Alexej, Iwan und Dmitrij, wenn auch der Chronist offenbar zu Iwan und Dmitrij nicht eine so enge Beziehung wie zu Alexej hatte. Die Wahrheit über die Ermordung Fjodor Karamasows, also das Geständnis Smerdjakows, kann der Chronist nur von Iwan erfahren haben. Und das erst einige Zeit nach der Verurteilung Dmitrijs, nachdem nämlich Iwan seine Geistesverwirrung, die mit dem halluzinierten Teufel einsetzt (Buch XI, Kap. 9), wieder überwunden hat. Über diesbezügliche Recherchen bei der Wahrheitssuche lässt aber der Chronist nichts verlauten. Was er aber durchblicken lässt, ist, dass beispielsweise die Bücher 7, 8 und 11 mit den Überschriften »Aljoscha«, »Mitja« und »Der Bruder Iwan Fjodorowitsch«, obwohl durchgehend in der dritten Person erzählt, immer nur die Perspektive des jeweils zentralen Bewusstseins wiedergeben, das mit der Überschrift für uns benannt wird. William Faulkner, der obsessive Dostojewskij-Leser, konnte deshalb, in einem Interview nach den Brüdern Karamasow befragt, sagen: Dostojewskij hätte seine »Detektivgeschichte« sehr viel kürzer erzählen können, wenn er den Chronisten weggelassen hätte und die drei Brüder ihre Geschichte jeweils in der Ich-Form erzählen würden. Genau das hat Faulkner selbst in seinem Hauptwerk Schall und Wahn ( The Sound and the Fury , 1929) getan, als er seine drei Brüder Compson, Benjy, Quentin und Jason, ihre Geschichte in der Ich-Form erzählen ließ.
Festzuhalten bleibt: Um die Brüder Karamasow adäquat zu verstehen, ist der tatsächliche Perspektivismus des Chronisten in Rechnung zu stellen. Die von ihm dem Leser vermittelte Wahrheit über den Mord an Fjodor Karamasow könnte sich innerfiktional gegen den Indizienbeweis vor Gericht nicht durchsetzen. Sobald wir uns als Leser in die Welt der Fiktion voll und ganz versetzen lassen, wird Smerdjakows Geständnis gegenüber Iwan (Buch XI, Kap. 8) zu einer geradezu phantastischen Konstruktion des Sachverhalts, die Iwan zugeschrieben würde. Nicht nur das Handeln Dmitrijs und das Smerdjakows ergänzen einander vollkommen mit
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