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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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ist, ist von der Zukunft die Rede: Alexejs Ansprache an die Knaben, mit der der Roman ausklingt (Epilog, Kapitel 3). Und so stehen am Anfang des Romans die »Väter«, am Ende die »Kinder« – in der Mitte die erwachsenen »Söhne«. Dies sei näher erläutert.
    Geistiger Vater und leiblicher Vater
    Die Gegenwartshandlung beginnt mit der Präsentation zweier Väter: Starez Sossima und Fjodor Karamasow. Beide zusammen machen die zwei Seiten der menschlichen Natur aus: Geist und Körper, Vergeistigung und Triebhaftigkeit, Frömmigkeit und Laster. Weitere Oppositionen lassen sich finden. In diesen beiden Vätern stehen sich »intelligibler« Mensch und »empirischer« Mensch gegenüber, homo noumenon und homo phaenomenon . Es mag nicht unnötig sein, hier zu betonen, dass der Starez Sossima selbstverständlich einen Körper hat, dessen »Verwesungsgeruch« sogar ein ganzes Kapitel füllt (Buch VII, Kapitel 1). Auch ist die Botschaft Sossimas ja gerade auf die Bejahung des lebendigen Lebens gerichtet und nicht auf einen Rückzug von der Welt in die Einsamkeit der Klosterzelle. Des Weiteren sei nicht vergessen, daß Fjodor Karamasow sein Lotterleben mit Geist betreibt und in höchst reflektierter Unsittlichkeit lebt, ja sich hinter der Maske des aggressiven Clowns als ein Sossima ebenbürtiger Gesprächspartner erweist. Nur wird das eine Mal der Vergeistigung, das andere Mal der Triebhaftigkeit die Herrschaft eingeräumt. Und so ist Starez Sossima das gelebte Bild sittlicher Vervollkommnung, während Fjodor Karamasow die Frage auslöst: »Wozu lebt ein solcher Mensch!« (Überschrift zum sechsten Kapitel des Zweiten Buchs). Es ist Dmitrij, der diesen Ausruf tut!
    Dass Starez Sossima als Vatergestalt eingeführt wird, verdeutlicht insbesondere Alexej Karamasow. Ihm ist Sossima der geistige Vater, den er sich selber wählt, während ihm Fjodor Karamasow als leiblicher Vater von der Natur mitgegeben wurde. Man beachte, dass Sossima und Fjodor Karamasow am gleichen Tage sterben – und sie sterben beide so, wie sie gelebt haben. Sossima kniet nieder und küsst die Erde, während sein Herz zu schlagen aufhört und er »ruhig und freudig seine Seele Gott zurückgibt«; Fjodor Karamasow aber beugt sich lüstern durchs offene Fenster in den dunklen Garten, wo er Gruschenka vermutet, als ihm Smerdjakow mit einem gußeisernen Briefbeschwerer hinterrücks den Schädel einschlägt.
    Dass Dostojewskij den geistigen Vater Alexej Karamasows und dessen leiblichen Vater an ein und demselben Tag sterben lässt, macht erneut darauf aufmerksam, dass sich in diesen beiden Vätern zwei verschiedene Möglichkeiten des Menschen antithetisch gegenüberstehen. Ja, man darf sagen: Die beiden Vatergestalten Sossima und Fjodor Karamasow beherrschen, grundsätzlich gesehen, den gesamten Roman: als die allen drei Brüdern in gleicher Weise sichtbaren Inkarnationen von virtus und turpitudo.
    Alle drei Brüder Karamasow werden also an ein und demselben Tag in eine doppelte Vaterlosigkeit entlassen. Sie verlieren an ein und demselben Tag ihren geistigen und ihren leiblichen Vater. Das heißt: Sie haben sich jetzt selbst zu finden und sich dabei über die so verschiedenen Vermächtnisse beider Väter klarzuwerden.
    Es zeigt sich jetzt ein weiteres Merkmal der Architektonik der Brüder Karamasow. Wenn sich soeben feststellen ließ, dass sich das Schicksal der drei Brüder Karamasow zwischen der Einsiedelei und dem Gerichtssaal als den beiden Orten der Gerechtigkeit vollzieht, so ist diese Feststellung im Hinblick auf die Architektonik des Romans nun folgendermaßen zu ergänzen. Der Horizontalen, auf der die Bewegung von der Einsiedelei zum Gerichtssaal verläuft, ist eine Senkrechte hinzuzufügen, die sich, immer gleichbleibend, mitbewegt. Diese Senkrechte hat oben das Prinzip Sossima und unten das Prinzip Fjodor Karamasow zur Grenze. Die drei Brüder Karamasow bewegen sich also auf ihrem Weg von der Einsiedelei zum Gerichtssaal ständig zwischen »Sossima« und »Fjodor Karamasow«, gefasst als Prinzipien des Denkens und Handelns. Das heißt: Der Weg der Brüder Karamasow verläuft im Spannungsfeld von virtus und turpitudo.
    Man beachte, dass uns die Gesinnung der drei Brüder Karamasow bis zur Ermordung Fjodor Karamasows zweimal »kompakt« demonstriert wird: zunächst in der Einsiedelei (Buch II, Kapitel 6: »Wozu lebt ein solcher Mensch!«), dann im Hause Fjodor Karamasows (Buch III, Kapitel 9: »Die Lüstlinge«). Kurz vor der Ermordung Fjodor

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