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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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(1868/69) das Gewaltverbrechen und seine Bestrafung; zwar sind insbesondere die Bösen Geister (1871/72) durch eine ganze Serie von Gräueltaten gekennzeichnet, die sämtlich ihre Aufklärung finden; zwar suggeriert auch der Grüne Junge (1875) mit der bösen Präsenz des Gangsters Maurice Lambert den Zugriff der Polizei; nur Verbrechen und Strafe und die Brüder Karamasow jedoch erheben das Vorgehen der Justiz bei der Verfolgung und Verurteilung des Täters zu einem zentralen Thema.
    Solche Themenstellung hat zur Folge, dass sich diese beiden Romane, ungeachtet ihres jeweils beträchtlichen Umfangs, auf ein einziges Verbrechen und damit auf einen einzigen Spannungsherd konzentrieren. Dieser Umstand bedingt in beiden Fällen eine ganz spezielle Intensität der Wirkung. Man bedenke, dass sich auch nach aufmerksamer Lektüre weder die Handlung des Idioten noch die der Bösen Geister noch des Grünen Jungen ohne weiteres wiedergeben lässt – und zwar nicht einmal in den Grundzügen, denn Dostojewskij arbeitet in diesen Werken mit einer gezielten Überforderung der Speicherungsfähigkeit des Lesers.
    Verbrechen und Strafe und die Brüder Karamasow sind jedoch in den Grundzügen ihrer Handlung übersichtlich, ja einfach konzipiert, wenn auch Dostojewskij bei der Darbietung dieser Handlung nicht auf ausgeklügelte Störungen des Informationsflusses verzichten kann. Das regelrecht obsessive Umkreisen ein und desselben Verbrechens stellt jedoch einen Sog an Bedeutung her: Opfer, Täter und Justiz erschaffen für uns die Welt der Indizien, in der nur das relevant ist, was den Hergang der Tat ans Licht bringen könnte. Der formale Niederschlag solcher Verengung des Bedeutsamen auf ein Verbrechen und seine Aufklärung ist die Rekonstruktion verschiedener Perspektiven und damit die immer neue Evokation des Tatortes.
    So gewinnt in Verbrechen und Strafe das hässliche großstädtische Mietshaus, in dessen Anonymität Raskolnikow sein Verbrechen probt, durchführt und nacherlebt, ein geradezu unheimliches Eigenleben. Konkrete Umwelt wird zur Seelenlandschaft, indem noch das geringste Detail den Horror des Unwiderruflichen aufbewahrt. Mit der gleichen schaurigen Implikation blickt uns schließlich die nächtliche Mordstatt in den Brüdern Karamasow an: da ist das verfallene Herrenhaus mit seinem massiven Nebengebäude, da ist jene Kellertreppe, die Smerdjakow angeblich »hinabstürzt«; da ist der feste hohe Zaun, über den der flüchtende Dmitrij klettert; da ist das erleuchtete Fenster, aus dem Fjodor Karamasow noch kurz vor seiner Ermordung in den dunklen Garten blickt; und da ist jene Tür, von der Dmitrij behauptet, sie sei geschlossen gewesen, während Grigorij, der Diener, versichert, sie habe offengestanden … In das Ensemble dieser Details bringt Dostojewskij eine aufregende Unruhe, indem das Erzählte immer wieder sein Aussehen wechselt, weil es immer wieder von einem anderen Standpunkt anvisiert wird: aus der Sicht Dmitrijs, aus der Sicht Grigorijs, aus der Sicht des Staatsanwalts, des Verteidigers und nicht zuletzt aus der Sicht Smerdjakows, des wirklichen Täters.
    Es sei festgehalten: Die Brüder Karamasow sind wie Verbrechen und Strafe der Roman einer einzigen Untat, nach deren Vollzug sich die dargebotene Welt mit wachsender Geschwindigkeit in einen Hexenkessel der Indizien verwandelt. Sämtliche Elemente der Haupthandlung stehen im Banne des Geschehens am Tatort. Mit solcher Feststellung der hervorstechenden thematischen Gemeinsamkeit zwischen beiden Werken tritt aber auch deren grundsätzliche Verschiedenheit hervor: Verbrechen und Strafe hat nur eine einzige zentrale Täterpersönlichkeit, in den Brüdern Karamasow indessen wird die Täterpersönlichkeit in vier verschiedene Komponenten zerlegt, deren jede als ein selbständiges Individuum gestaltet wird. Solche Aufteilung der Täterpersönlichkeit stellt, um erkannt und verstanden zu werden, hohe Anforderungen an die Abstraktionsfähigkeit des Lesers. Der einfachen Linienführung im anschaulichen Bereich entspricht in den Brüdern Karamasow eine ungemein komplizierte Konstruktion im allegorischen Bereich, denn Dostojewskij lässt ja hier das Geschworenengericht zu einem Emblem des Gerichtshofs im Inneren des Menschen werden.
    Damit die Funktion des Justizirrtums erkannt werden kann, muss vor allem die Architektonik der Brüder Karamasow klar vor Augen treten. Zuvor ein kurzes Wort zur zeitlichen Gliederung des Romans.
    Chronist und Zeitschema
    Dostojewskij

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