Double Cross. Falsches Spiel
an einem Grab.
Vicary klopfte sanft seine Taschen nach der Lesebrille ab.
»Es könnte ein Zufall sein«, sagte Harry. »Aber ich glaube nicht an Zufälle. Schon gar nicht, wenn einer Frau ins Auge geschossen wird.« Harry hielt inne. Jetzt zeigte er erstmals eine Regung. »Mein Gott, so etwas habe ich noch nie gesehen.
Straßenräuber schießen ihren Opfern nicht ins Gesicht. So etwas tun nur Profis.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Ein Passant. Wir haben ihn vernommen. Seine Geschichte scheint zu stimmen.«
»Wie la nge ist sie schon tot?«
»Erst seit ein paar Stunden. Das bedeutet, daß sie am späten Nachmittag oder am frühen Abend erschossen wurde.«
»Hat niemand den Schuß gehört?
»Nein.«
»Ob die Waffe einen Schalldämpfer hatte?«
»Möglich.«
Der Superintendent trat zu ihnen.
»He, wenn das nicht Harry Dalton ist, der Mann, der den Fall Spencer Thomas aufgeklärt hat.« Sein Blick streifte Vicary und kehrte dann zu Harry zurück. »Ich habe gehört, daß Sie jetzt für die Irregulären arbeiten.«
Harry rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Hallo, Chef.«
»Ich erkläre den Fall mit sofortiger Wirkung zu einer Sicherheitssache«, sagte Vicary. »Die erforderlichen Papiere liegen morgen früh auf Ihrem Schreibtisch. Ich möchte, daß Harry die Ermittlungen koordiniert. Alles läuft über ihn. Harry wird in Ihrem Namen eine Erklärung aufsetzen. Ich möchte, daß dieses Verbrechen als ein gescheiterter Raubüberfall dargestellt wird. Beschreiben Sie die Todesursache wahrheitsgemäß. Und keine weitschweifigen Angaben über den Tatort. In der Presseerklärung soll stehen, daß die Polizei nach zwei Flüchtigen unbekannter Herkunft sucht, die zum Zeitpunkt des Mordes im Park gesehen wurden. Und ich wünsche, daß Ihre Männer diskret vorgehen. Ich danke Ihnen, Superintendent.
Harry, wir müssen gleich morgen früh miteinander reden.«
Harry und der Superintendent sahen zu, wie Vicary den Hügel hinabhumpelte und dann in der Dunkelheit verschwand. Der Superintendent wandte sich an Harry. »Zum Donnerwetter, worum geht es hier eigentlich?«
Harry blieb im Park, bis die Leiche weggebracht wurde. Es war nach Mitternacht. Er bat einen Polizeibeamten, ihn in seinem Wagen mitzunehmen. Er hätte auch im Department anrufen und ein Dienstfahrzeug anfordern können, aber er wollte nicht, daß man dort erfuhr, wohin er ging. Er ließ sich von dem Polizisten in der Nähe von Grace Clarendons Wohnung absetzen und ging den Rest der Strecke zu Fuß. Sie hatte ihm seine alten Schlüssel wiedergegeben, und er trat ein, ohne anzuklopfen.
Grace schlief immer wie ein Kind - auf dem Bauch, Arme und Beine ausgestreckt, und ein weißer Fuß schaute unter der Decke hervor. Harry zog sich leise im Dunkeln aus und versuchte, ohne sie zu wecken, ins Bett zu schlüpfen. Die Federn der Matratze quietschten unter seinem Gewicht. Sie erwachte, rollte sich herüber und küßte ihn.
»Ich dachte schon, du hättest mich wieder verlassen, Harry.«
»Nein, ich hatte nur einen sehr langen, sehr unangenehmen Abend.«
Sie stützte sich auf den Ellbogen. »Was ist passiert?« Harry erzählte es ihr. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander.
»Es ist möglich, daß sie von der Agentin erschossen wurde, die wir suchen.«
»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Es war gräßlich. Ein Schuß ins Gesicht. So etwas vergißt man nicht so leicht, Grace.«
»Vielleicht kann ich dir helfen zu vergessen?« Er wollte einfach nur schlafen. Er war erschöpft, und wenn er eine Leiche hatte inspizieren müssen, fühlte er sich immer schmutzig. Doch sie begann, ihn zu küssen, zuerst sehr langsam und zärtlich.
Dann bat sie ihn, ihr aus dem Nachthemd zu helfen, und der Wahnsinn begann. Sie liebte ihn immer wie eine Besessene, krallte sich in seinen Körper und zerkratzte ihn, zerrte an ihm, als versuche sie, Gift aus einer Wunde zu ziehen. Als er in sie eindrang, weinte sie und flehte ihn an, sie niemals zu verlassen.
Und hinterher, als sie neben ihm lag und schlief, ertappte sich Harry bei dem schrecklichsten Gedanken, der ihm jemals in den Sinn gekommen war. Er hoffte, daß ihr Mann niemals aus dem Krieg zurückkommen würde.
34
London
Sie versammelten sich am folgenden Nachmittag in einem geheimen Raum am Grosvenor Square Nr. 47 um das große Modell eines Mulberry-Hafens: hohe amerikanische und britische Offiziere, die an dem Projekt arbeiteten, Churchills persönlicher Stabschef, General Sir Hastings
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