Double Cross. Falsches Spiel
verschwand in der Menge. Neumann ging noch ein paar Schritte weiter und studierte dabei die Gesichter der entgegenkommenden Passanten. Dann blieb er plötzlich vor einem anderen Schaufenster stehen, wandte sich um und ging ihr langsam nach.
Clive Roach erkannte Rudolf und sah die Übergabe.
Raffinierte Bastarde, dachte er. Er beobachtete, wie Rudolf stehenblieb, sich dann umdrehte und die gleiche Richtung wie Catherine Blake einschlug. Roach hatte seit 1939 viele Treffs zwischen deutschen Agenten beobachtet, doch er hatte noch nie gesehen, daß ein Agent kehrtmachte und dem anderen folgte.
Normalerweise ging jeder seiner Wege. Roach schlug den Kragen seiner Ö ljacke hoch und heftete sich vorsichtig an ihre Fersen.
Catherine Blake ging auf dem Strand nach Osten und dann zum Victoria Embankment hinunter. Da bemerkte sie, daß Neumann ihr folgte. Im ersten Moment wurde sie ärgerlich. Es gehörte zu den festen Regeln, sich nach einer Übergabe zu trennen, und zwar so schnell wie möglich. Neumann kannte das Verfahren und hatte es jedesmal fehlerfrei durchgeführt. Warum folgt er mir jetzt? fragte sie sich.
Vogel mußte es ihm befohlen haben.
Aber warum? Ihr fielen mehrere mögliche Erklärungen ein.
Vielleicht traute er ihr nicht mehr und wollte sehen, wohin sie ging. Oder er wollte feststellen, ob sie beschattet wurde. Sie blickte hinaus auf die Themse, dann wandte sie sich um und sah am Ufer entlang. Neumann machte keinen Versuch, sich vor ihr zu verbergen. Catherine ging weiter.
Sie dachte an die endlosen Übungslektionen in Vogels geheimem Lager in Bayern. Er hatte es Gegenbeschattung genannt: Ein Agent folgte einem anderen, um festzustellen, ob dieser von der Gegenseite observiert wurde. Sie überlegte, warum Vogel sich ausgerechnet jetzt zu dieser Maßnahme entschlossen hatte. Vielleicht wollte er verifizieren, daß das Material, das sie lieferte, echt war, indem er sich vergewisserte, daß sie nicht vom Gegner überwacht wurde. Schon beim bloßen Gedanken daran krampfte sich ihr Magen vor Angst zusammen.
Neumann folgte ihr, weil Vogel den Verdacht hatte, daß der MI5 sie observierte!
Sie blieb abermals stehen und starrte hinaus auf den Fluß. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie mußte einen klaren Kopf bewahren. Sie drehte sich um und blickte wieder am Ufer entlang. Neumann war noch da. Er wich bewußt ihrem Blick aus, das entging ihr nicht. Er sah aufs Wasser oder nach hinten, überallhin, nur nicht in ihre Richtung.
Sie setzte sich wieder in Bewegung. Ihr Herz hämmerte. Sie ging zur U-Bahnstation Blackfriars und kaufte eine Fahrkarte bis Victoria. Neumann folgte ihrem Beispiel, nur daß er eine Fahrkarte bis South Kensington, der Station danach, löste.
Sie ging schnell zum Bahnsteig. Neumann kaufte eine Zeitung und folgte ihr. Sie wartete auf die Bahn. Neumann stand fünf Meter neben ihr und las Zeitung. Der Zug kam und Catherine stieg ein. Neumann sprang in denselben Wagen, nur durch die andere Tür.
Sie setzte sich. Neumann blieb im hinteren Teil des Wagens stehen. Der Ausdruck auf seinem Gesic ht gefiel Catherine überhaupt nicht. Sie öffnete ihre Handtasche und sah hinein: eine Brieftasche voller Bargeld, ein Stilett und eine geladene Mauserpistole mit Schalldämpfer und Reservemagazinen. Sie schloß die Tasche und wartete auf Neumanns nächsten Schritt.
Zwei Stunden lang folgte ihr Neumann durch das West End - von Kensington nach Chelsea, von Chelsea nach Brompton, von Brompton nach Belgravia, von Belgravia nach Mayfair. Als sie den Berkeley Square erreichten, hatte er keine Zweifel mehr. Sie waren gut, verdammt gut, aber mit viel Zeit und Geduld hatte er schließlich ihre Mittel erschöpft und sie zu einem Fehler gezwungen. Es war der Mann im Regenmantel, fünfzehn Meter hinter ihm. Vor fünf Minuten hatte Neumann einen Blick von seinem Gesicht erhascht. Dasselbe Gesicht hatte er vor fast drei Stunden am Strand gesehen, als er von Catherine den Film übernommen hatte, nur hatte der Mann zu diesem Zeitpunkt noch eine grüne Öljacke und eine Wollmütze getragen.
Neumann fühlte sich schrecklich einsam. Er hatte den schlimmsten Teil des Krieges überlebt, aber keine der Fertigkeiten, die ihm auf Kreta oder in Rußland geholfen hatten, konnte er hier ins Spiel bringen. Der Mann hinter ihm war dünn und käsig, und wahrscheinlich auch ziemlich schwach.
Neumann hätte ihn in Sekundenschnelle töten können. Aber die alten Regeln galten in diesem Spiel nicht mehr. Er konnte keine
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