Double Cross. Falsches Spiel
der Liverpool Street war 10.23 Uhr. Wie durch ein Wunder hatte der Zug nur ein paar Minuten Verspätung. Neumann setzte sich gähnend auf und streckte sich. Er blickte auf die tristen Mietskasernen, die vor dem Fenster vorüberglitten. Schmutzige Kinder winkten dem Zug. Neumann winkte zurück und kam sich lächerlich englisch dabei vor. Im Abteil saßen drei weitere Fahrgäste, zwei Soldaten und eine junge Frau im Overall einer Fabrikarbeiterin, die besorgt die Stirn gerunzelt hatte, als sie das dicke Pflaster in Neumanns Gesicht sah. Jetzt streifte er alle drei mit einem kurzen, prüfenden Blick. Er hatte immer noch Sorge, daß er im Schlaf reden könnte, obwohl er in den letzten Nächten auf englisch geträumt hatte. Er lehnte den Kopf zurück und schloß wieder die Augen. Oh Gott, war er müde. Er war um fünf aufgestanden und hatte das Cottage um sechs verlassen, damit Sean ihn nach Hunstanton mitnehmen konnte. Und dort hatte er um 7.12 Uhr den Zug nach London genommen.
Er hatte letzte Nacht nicht gut geschlafen. Seine Wunden schmerzten, und außerdem ha tte es ihn irritiert, daß Jenny Colville neben ihm lag. Sie war vor Morgengrauen mit ihm aufgestanden, leise aus dem Cottage geschlüpft und durch die Dunkelheit und den Regen nach Hause geradelt. Neumann hoffte, daß sie heil angekommen war und daß Martin nicht auf sie gewartet hatte. Es war dumm von ihm gewesen, ihr zu erlauben, die Nacht mit ihm zu verbringen. Er fragte sich, wie es ihr wohl gehen würde, wenn er nicht mehr da war, wenn er nie schrieb und sie nie wieder von ihm hörte. Was würde sie empfinden, wenn sie eines Tages vielleicht die Wahrheit erfuhr - daß er nicht James Porter war, kein verwundeter britischer Soldat, der in einem Dorf in Norfolk Ruhe und Frieden suchte, sondern Horst Neumann, ein hochdekorierter deutscher Fallschirmspringer, der als Spion nach England gekommen war und sie in schändlichster Weise betrogen hatte. Nur in einer Hinsicht hatte er sie nicht betrogen: Er mochte sie wirklich.
Nicht so, wie sie es gern hätte, aber es lag ihm am Herzen, was aus ihr wurde.
Der Zug drosselte das Tempo, als er sich dem Bahnhof in der Liverpool Street näherte. Neumann stand auf, zog seine Seemannsjacke an und verließ das Abteil. Der Korridor war überfüllt. Er schlurfte zwischen den anderen Fahrgästen zur Tür.
Irgend jemand vor ihm öffnete sie, und Neumann sprang aus dem noch fahrenden Zug. Er gab seine Fahrkarte am Ausgang ab und ging durch eine feuchte Unterführung zur U-Bahnstation.
Dort löste er eine Fahrkarte bis Temple und nahm die nächste Bahn. Ein paar Minuten später stieg er die Treppe hinauf und ging in Richtung Strand.
Catherine Blake fuhr mit dem Taxi bis Charing Cross. Der Treffpunkt lag ganz in der Nähe, vor einem Laden am Strand.
Catherine bezahlte den Fahrer und spannte ihren Regenschirm auf. Sie ging in eine Telefonzelle, nahm den Hörer ab und tat so, als tätige sie einen Anruf. Dabei sah sie sich um. Wegen des heftigen Regens war die Sicht schlecht, doch sie entdeckte nichts Verdächtiges. Sie legte wieder auf, trat aus der Zelle und folgte dem Strand in östlicher Richtung.
Clive Roach sprang aus dem Laderaum eines Observationsfahrzeugs und folgte ihr. Auf der kurzen Fahrt hatte er seinen Regenmantel und seinen breitkrempigen Hut gegen eine dunkelgrüne Ö ljacke und eine Wollmütze eingetauscht. Die Verwandlung war bemerkenswert. Aus dem Büroangestellten war ein Arbeiter geworden. Roach beobachtete, wie Catherine Blake die Telefonzelle betrat und den fingierten Anruf tätigte.
Er blieb bei einem Zeitungsverkäufer stehen. Während er die Schlagzeilen überflog, rief er sich das Gesicht des Agenten ins Gedächtnis, den Vicary Rudolf getauft hatte. Roachs Aufgabe war einfach: Er sollte Catherine Blake beschatten, bis sie Rudolf ihr Material übergab. Dann sollte er ihm folgen. Er blickte rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sie den Hörer wieder in die Gabel hängte und die Telefonzelle verließ. Roach mischte sich unter die anderen Passanten und folgte ihr.
Neumann sah Catherine Blake auf sich zukommen. Er blieb vor einem Geschäft stehen und musterte aus dem Augenwinkel die Gesichter und die Kleidung der Passanten hinter ihr. Als sie näher kam, wandte er sich von dem Schaufenster ab und ging ihr entgegen. Der Kontakt war kurz und dauerte nur ein oder zwei Sekunden. Doch hinterher hatte Neumann eine Filmdose in der Hand und steckte sie in die Tasche. Catherine Blake entfernte sich rasch und
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