Double Cross. Falsches Spiel
verdächtige Funksprüche zu achten.
Nach zwei Stunden stand er zum ersten Mal von seinem Schreibtisch auf und verließ sein Büro. Die Kommandostelle in der West Halkin Street war geräumt worden, und die Mitglieder seines Teams hatten sich nach und nach wieder in der MI5-Zentrale in der St. James's Street eingefunden. Sie saßen in dem Gemeinschaftsbüro wie Überlebende einer Naturkatastrophe - deprimiert, durchnäßt, erschöpft. Clive Roach hielt sich etwas abseits, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß gefaltet. Alle paar Augenblicke ging einer der Kollegen zu ihm hinüber, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ein paar ermutigende Worte ins Ohr. Peter Jordan ging auf und ab. Tony Blair verfolgte ihn mit wütendem Blick. Die einzigen Geräusche waren das Rattern der Fernschreiber und das Gezwitscher der Telefonistinnen.
Das Schweigen wurde für eine Weile gebrochen, als Harry Dalton kurz nach neun mit verbundenem Arm und Gesicht den Raum betrat. Alle standen auf und drängten sich um ihn. »Gut gemacht, Harry, alter Junge... Du hast dir einen Orden verdient...
Dir haben wir es zu verdanken, daß wir noch eine Chance haben, Harry... Ohne dich wäre es aus...«
Vicary zog ihn in sein Büro: »Sollten Sie sich nicht lieber hinlegen und ausruhen?«
»Ja. Aber ich wollte lieber hier sein.«
»Sind die Schmerzen schlimm?«
»Es geht. Sie haben mir was dagegen gegeben.«
»Haben Sie immer noch Zweifel, wie Sie reagieren würden, wenn Sie auf dem Schlachtfeld unter Beschuß gerieten?«
Harry rang sich ein schwaches Lächeln ab. Er senkte den Blick, schüttelte den Kopf und wechselte schnell das Thema.
»Schon einen Schritt weiter?« fragte er.
Vicary schüttelte den Kopf.
»Was haben Sie unternommen?«
Vicary setzte ihn ins Bild.
»Ganz schön verwegen, dieser Rudolf. Kommt zurück und schnappt sie uns vor der Nase weg. Hat Mut, der Bursche, das muß ich ihm lassen. Wie hat Boothby es aufgenommen?«
»Nicht schlimmer als erwartet. Er ist jetzt oben beim Generaldirektor. Wahrscheinlich planen sie meine Hinrichtung.
Wir haben einen heißen Draht zum unterirdischen Hauptquartier und zum Premierminister. Der Alte wird ständig auf dem laufenden gehalten. Ich wünschte, ich hätte ihm etwas zu berichten.«
»Wir haben alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Jetzt können wir nur herumsitzen und darauf warten, daß etwas passiert. Irgendwas müssen sie schließlich tun. Und wenn, dann kriegen wir sie.«
»Ihren Optimismus möchte ich haben, Harry.«
Harry schnitt eine Grimasse und wirkte plötzlich sehr müde.
»Ich werde mich eine Weile aufs Ohr legen.« Er ging langsam zur Tür.
»Hat Grace Clarendon heute Dienst?« fragte Vicary.
»Ja, ich glaube.«
Das Telefon klingelte. Basil Boothby war am Apparat.
»Kommen Sie sofort herauf, Alfred.«
Über Boothbys Tür brannte die grüne Lampe. Vicary ging hinein. Sir Basil ging nervös auf und ab und rauchte. Er hatte das Jackett ausgezogen und die Krawatte gelockert, und seine Weste war nicht zugeknöpft. Wütend deutete er auf einen Stuhl und sagte: »Setzen Sie sich, Alfred. Tja, heute nacht brennt überall in London noch Licht: am Grosvenor Square, in Eisenhowers Hauptquartier in Hayes Lodge, im unterirdischen Bunker des Premierministers. Und alle wollen nur eines wissen: Weiß Hitler, daß es in der Normandie passieren wird? Ist die Invasion gestorben, bevor sie überhaupt begonnen hat?«
»Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich sagen.«
»Zum Donnerwetter!« Boothby drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort die nächste an. »Zwei Beamte von der Special Branch tot, zwei weitere verwundet. Gott sei Dank, daß Harry dabei war!«
»Er ist unten. Ich bin sicher, daß er das gerne von Ihnen persönlich hören würde.«
»Wir haben jetzt keine Zeit für Bauchpinseleien, Alfred. Wir müssen sie aufhalten, und zwar schnell. Ich muß Ihnen ja wohl nicht erklären, was auf dem Spiel steht.«
»Nein, Sir Basil.«
»Der Premierminister möchte alle paar Minuten über den aktuellen Stand unterrichtet werden. Kann ich ihm irgendwas berichten?«
»Leider nein. Wir lassen jeden denkbaren Fluchtweg überwachen. Ich wünschte, ich könnte sagen, daß wir sie mit Sicherheit kriegen, aber ich denke, es wäre unklug, sie zu unterschätzen. Das haben sie uns oft genug bewiesen.«
Boothby nahm wieder seine ruhelose Wanderung auf. »Zwei Tote, drei Verwundete und zwei Spione, die frei herumlaufen und genug wissen, um unser
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