Double Cross. Falsches Spiel
Harry ein Klicken. Er hatte das Geräusch schon gehört, vor dem Krieg in den Straßen Ost-Londons - die herausschnappende Klinge eines Stiletts. Er sah, wie Catherine den Arm hob und die Klinge in einem tückischen Bogen auf seine Kehle zusausen ließ. Wenn er den Arm hob, konnte er den Hieb abwehren. Aber dann würde sie ihm das Funkgerät entreißen. Er hielt das Gerät weiter mit beiden Händen fest und versuchte, dem Stilett zu entgehen, indem er den Kopf drehte.
Die Klinge traf ihn seitlich am Gesicht. Er spürte, wie sie in sein Fleisch schnitt. Der Schmerz folgte einen Sekundenbruchteil später - ein Brennen, als habe ihm jemand geschmolzenes Metall ins Gesicht gegossen. Harry brüllte auf, ließ aber nicht los. Sie holte abermals aus, und diesmal stieß sie ihm die Klinge in den Unterarm. Wieder schrie Harry vor Schmerz, aber er biß die Zähne zusammen. Seine Hände ließen die Tasche nicht los.
Sie schienen sich selbständig gemacht zu haben. Nichts, kein noch so schlimmer Schmerz, konnte sie zum Loslassen bewegen.
Catherine Blake gab das Gerät frei und keuchte: »Sie müssen ein sehr mutiger Mann sein, wenn Sie Ihr Leben für ein Funkgerät riskieren.«
Dann drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Harry lag auf dem nassen Boden und betastete sein Gesicht.
Ihm wurde übel, als er den warmen Knochen seines Unterkiefers spürte. Der Schmerz ließ nach, und er merkte, daß er langsam das Bewußtsein verlor. Er hörte das Stöhnen der verwundeten Männer von der Special Branch. Der Regen klatschte gegen sein Gesicht. Er schloß die Augen. Da spürte er, wie etwas gegen sein Gesicht drückte. Er schlug die Augen auf und erblickte Alfred Vicary, der sich über ihn beugte.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen vorsichtig sein, Harry.«
»Hat sie das Funkgerät mitgenommen?«
»Nein. Sie haben es verhindert.«
»Sind sie entkommen?«
»Ja, aber wir jagen sie.«
Ein jäher Schmerz durchzuckte Harry. Er zitterte und hatte das Gefühl, sich erbrechen zu müssen. Vicarys Gesicht verschwamm, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
50
London
Innerhalb einer Stunde nach dem Fiasko in Earl's Court hatte Vicary die größte Menschenjagd in der Geschichte Großbritanniens organisiert. Alle Polizeiwachen im Land - von Penzance bis Dover, von Portsmouth bis Inverness - erhielten eine Beschreibung der flüchtigen Spione. Vicary ließ durch Motorradkuriere in allen Städten und Dörfern in der Umgebung Londons Fahndungsfotos verteilen. Den meisten an der Suche beteiligten Beamten wurde mitgeteilt, die Flüchtige n seien verdächtig, 1938 vier Morde begangen zu haben. Nur eine Handvoll ranghoher Polizeibeamter wurde diskret informiert, daß es sich um eine Sicherheitsangelegenheit von größter Wichtigkeit handelte - von solcher Wichtigkeit, daß der Premierminister den Verlauf der Fahndung persönlich verfolge.
Die Londoner Polizei reagierte ungewöhnlich schnell und hatte schon fünfzehn Minuten nach Vicarys Anruf an allen wichtigen Ausfallstraßen Sperren errichtet. Vicary versuchte, alle in Frage kommenden Fluchtwege abzuschneiden. MI5-Leute und Polizeibeamte patrouillierten auf sämtlichen Londoner Bahnhöfen. Und auch das Personal auf den Fähren nach Irland erhielt eine Personenbeschreibung der Verdächtigen.
Danach kontaktierte Vicary die BBC und verlangte den verantwortlichen Redakteur. Die Hauptnachrichten um neun Uhr abends wurden mit der Meldung von der Schießerei in Earl's Court eröffnet, bei der zwei Polizeibeamte getötet und drei weitere verletzt worden seien. Der Sprecher verlas eine Beschreibung von Catherine Blake und Rudolf und nannte eine Telefonnummer für Hinweise aus der Bevölkerung. Schon fünf Minuten später setzte das Geklingel ein. Die Telefonistinnen protokollierten jeden wohlmeinenden Anruf und gaben ihre Notizen an Vicary weiter. Die meisten warf er sofort in den Papierkorb. Einigen ging er nach. Kein Anruf lieferte einen Anhaltspunkt.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Fluchtwegen zu, die einem Normalsterblichen nicht zugänglich wären. Er rief bei der Royal Air Force an und bat sie, nach kleineren Flugzeugen Ausschau zu halten. Er nahm mit den Leuten im Marineministerium Kontakt auf und schärfte ihnen ein, auf U-Boote zu achten, die sich der Küste näherten. Die Küstenwache wurde angehalten, ihr Augenmerk auf kleinere Boote zu richten, die aufs Meer hinausfuhren. Schließlich rief er die Horchposten des Y-Dienstes an und ersuchte sie, verstärkt auf
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