Double Cross. Falsches Spiel
Wache stand, seinen Ausweis hin.
Im MI5 herrschte Panik. Gestern abend hatte ein Motorradkurier zwei entschlüsselte Funksprüche der deutschen Abwehr aus Bletchley Park gebracht. Sie hatten Vicarys schlimmste Befürchtungen bestätigt - in Großbritannien operierten mindestens zwei Agenten, die dem MI5 unbekannt waren. Und allem Anschein nach planten die Deutschen die Entsendung eines dritten. Es war eine Katastrophe.
Vicary hatte nach der schockierenden Lektüre der beiden Meldungen Sir Basil zu Hause angerufen und von der Neuigkeit unterrichtet. Sir Basil setzte sich daraufhin mit dem Generaldirektor und jedem anderen leitenden Offizier in Verbindung, der mit Double Cross zu tun hatte. Das Licht im fünften Stock hatte bis Mitternacht gebrannt. Vicary bearbeitete jetzt den wichtigsten Fall des Krieges. Er hatte weniger als eine Stunde geschlafen. Sein Kopf schmerzte, seine Augen brannten, seine Gedanken überstürzten sich.
Der Wachsoldat warf einen Blick auf Vicarys Ausweis und winkte ihn durch. Vicary stieg die Stufen hinab und durchquerte den kleinen Vorraum. Dieser Ort kam ihm immer wie eine unterirdische Erinnerungsstätte für die gescheiterte Beschwichtigungspolitik vor. Ironischerweise hatte Neville Chamberlain den Baubeginn noch am selben Tag angeordnet, als er aus München zurückgekehrt war und den ›Frieden in unserer Zeit‹ verkündet hatte. Das unterirdische Labyrinth, das durch eine meterdicke, mit alten Londoner Straßenbahnschienen verstärkte Betonschicht geschützt wurde, galt als absolut bombensicher und beherbergte neben Churchills persönlichem Befehlsstand die wichtigsten und geheimsten Regierungsstellen.
Vicary ging den Korridor hinunter, in den Ohren das Klappern von Schreibmaschinen und das Gellen Dutzender Telefone. Ein Hinweisschild warnte vor der niedrigen Decke, doch Vicary, der keine 1,70 Meter groß war, konnte bequem aufrecht gehen. Die Wände, einst cremefarben gestrichen, waren vergilbt wie altes Zeitungspapier. Die Fußböden waren mit häßlichem braunem Linoleum ausgelegt. An der Decke verliefen Abflußrohre, und Vicary konnte die Abwässer aus den oberirdischen New Public Offices hören. Obwohl die Luft durch ein spezielles Belüftungssystem gefiltert wurde, roch es nach Schweiß und kaltem Tabakrauch. Vicary näherte sich einer durch Strebepfeiler gestützten Tür, vor der ein zweiter Marineinfanterist wachte. Der Soldat nahm Haltung an, als Vicary vorüberging - eine Gummimatte dämpfte das Knallen seiner Hacken, damit die Mitarbeiter nicht gestört wurden.
Vicary musterte die Gesichter der Menschen, die hier, in der unterirdischen Festung des Premierministers, arbeiteten, wohnten, aßen und schliefen. Das Wort ›blaß‹ wurde ihrer Gesichtsfarbe nicht gerecht: Sie waren wachsbleiche Höhlenbewohner, die durch einen Kaninchenbau huschten. Mit einem Mal kam Vicary sein fensterloses Kabuff in der MI5-Zentrale gar nicht mehr so schlecht vor. Wenigstens lag es über der Erde. Wenigstens bekam er dort etwas frische Luft.
Churchills Privatquartier befand sich in Raum 65A, die nächste Tür nach dem Kartenraum und gegenüber der transatlantischen Telefonzentrale. Vicary wurde sofort von einem Assistenten hineingeführt, was ihm die eisigen Blicke mehrerer Beamter einbrachte, die den Eindruck erweckten, als warteten sie hie r schon seit dem Ende des letzten Krieges.
Den größten Teil des engen Raumes nahm ein schmales, mit grauen Armeedecken bezogenes Bett ein. Am Fuß des Bettes stand ein Tisch, darauf eine Flasche und zwei Gläser. Die BBC hatte ein Mikrofon fest installiert, damit Churchill von hier aus seine Rundfunkansprachen halten konnte. Vicary bemerkte das kleine Schild mit der Aufschrift Ruhe - auf Sendung. Der Raum enthielt nur einen luxuriösen Gegenstand: den Feuchthaltebehälter für Churchills Zigarren der Marke Romeo y Julieta.
Der Premierminister saß, in einen grünen Morgenmantel aus Seide gehüllt, hinter dem kleinen Schreibtisch, zwischen den Fingern die erste Zigarre des Tages. Er blieb sitzen, als Vicary eintrat. Vicary nahm auf der Bettkante Platz und betrachtete sein Gegenüber. Churchill war nicht mehr derselbe Mann, den er an jenem Nachmittag im Mai 1940 getroffen hatte, er war nicht mehr der unverwüstliche Optimist, den man aus Wochenschauen und Propagandafilmen kannte. Es war ihm anzusehen, daß er zuviel arbeitete und zuwenig schlief. Erst vor ein paar Tagen war er aus Nordafrika nach Großbritannien zurückgekehrt und litt noch unter
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