Double Cross. Falsches Spiel
Hören Sie, Sportsfreund, ich komme hier schon klar. Wie war's, wenn Sie das verfluchte Feuer ausmachen, bevor die halbe Welt weiß, daß wir hier sind.«
14
Ostpreußen: Dezember 1925
Das Wild hungert in diesem Winter. Es verläßt die Wälder und scharrt auf den Wiesen. Der große Bock steht im strahlenden Sonnenschein und wühlt mit der Nase im Schnee nach gefrorenem Gras. Sie lauern hinter einem kleinen Hügel, Anna auf dem Bauch, Papa kauernd neben ihr. Er raunt ihr Anweisungen zu, aber sie hört nicht hin. Sie braucht keine Anweisungen. Sie hat auf diesen Tag gewartet. Sie hat ihn sich vorgestellt. Sich auf ihn vorbereitet.
Sie schiebt die Patronen in den Lauf ihres Gewehres. Es ist neu, sein glatter Schaft hat keinen Kratzer, und es riecht nach sauberem Waffenöl. Es ist ihr Geburtstagsgeschenk. Sie ist heute fünfzehn geworden.
Auch der Bock ist ein Geschenk.
Sie hat schon früher ein Reh erlegen wollen, aber Papa hat abgelehnt. »Ein Reh zu erlegen ist ein aufwühlendes Erlebnis«, hat er erklärt. »Es ist schwer zu beschreiben. Du mußt die Erfahrung selber machen, aber das lasse ich erst zu, wenn du alt genug bist, um zu verstehen.«
Es ist ein schwieriger Schuß - einhundertfünfzig Meter, dazu ein kräftiger Seitenwind. Annas Gesicht schmerzt von der Kälte, ihr Körper zittert, und ihre Finger sind in den Handschuhen taub geworden. Sie spielt den Schuß in ihrem Kopf durch - sachte den Abzug drücken, genau wie auf dem Schießstand. So wie Papa es ihr beigebracht hat.
Der Wind weht böig. Sie wartet.
Sie kniet sich hin und bringt das Gewehr in Anschlag.
Der Bock, durch das Knirschen des Schnees aufgeschreckt, blickt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist.
Schnell hat sie den Kopf des Tieres im Visier, berechnet den Seitenwind und drückt ab. Das Geschoß durchbohrt das Auge des Bocks. Er bricht zusammen und bleibt leblos im Schnee liegen.
Sie senkt das Gewehr und wendet sich Papa zu. Sie hat erwartet, daß er strahlt, jubelt, die Arme ausbreitet und sie umarmt und ihr sagt, wie stolz er auf sie ist. Doch sein Gesicht ist eine leere Maske, als er zuerst den toten Bock und dann sie anstarrt.
»Dein Vater wünschte sich immer einen Sohn, aber ich konnte ihm keinen schenken«, sagte ihre tuberkulosekranke Mutter, als sie im Schlafzimmer am Ende des Flurs im Sterben lag. »Sei so, wie er dich haben will. Hilf ihm, Anna. Kümmere dich an meiner Stelle um ihn.«
Sie hat alles befolgt, worum Mutter sie gebeten hat. Sie hat reiten und schießen gelernt und tut alles, was Jungen tun, nur besser. Sie hat Papa überallhin begleitet, wo er als Diplomat tätig gewesen ist. Am Montag schiffen sie sich nach Amerika ein. Papa wird dort erster Botschaftsrat.
Anna hat von den Gangstern in Amerika gehört, die in großen schwarzen Autos durch die Straßen rasen und auf alles schießen, was sich bewegt. Wenn die Gangster versuchen, Papa weh zu tun, wird sie ihnen mit dem neuen Gewehr in die Augen schießen.
An diesem Abend liegen sie zusammen in Papas großem Bett.
Ein Holzfeuer brennt hell im Kamin. Draußen tobt ein Schneesturm. Der Wind heult, und die Bäume schlagen gegen die Hauswand. Anna meint immer, sie wollen ins Haus, weil ihnen kalt ist. Das Feuer prasselt, und der Rauch riecht warm und angenehm. Sie drückt das Gesicht gegen Papas Wange und legt den Arm um seine Brust.
»Mir fiel es schwer, mein erstes Reh zu erlegen«, sagt er, als gebe er einen Fehler zu. »Fast hätte ich mein Gewehr abgesetzt.
Warum ist es dir nicht schwer gefallen, Anna, Liebes?«
»Ich weiß nicht, Papa, einfach so.«
»Ich sah nur, wie mich das Biest mit seinen Augen anstarrte.
Mit seinen großen braunen Augen. Wunderschön. Dann sah ich, wie das Leben aus ihnen entwich, und ich fühlte mich schrecklich. Noch eine Woche verfolgte mich das.«
»Ich habe die Augen nicht gesehen.«
Er wendet sich ihr in der Dunkelheit zu. » Was dann?«
Sie zögert. »Ich habe sein Gesicht gesehen.«
»Wessen Gesicht, Kleines?« Er ist verwirrt. »Das Gesicht des Bockes?«
»Nein, Papa, nicht des Bockes.«
»Anna, Liebes, was um alles in der Welt meinst du damit?«
Sie würde es ihm gerne sagen, es irgend jemandem sagen.
Wäre ihre Mutter noch am Leben, könnte sie es ihr vielleicht sagen. Aber sie bringt es nicht über sich, es Papa zu sagen. Er würde wahnsinnig werden. Es wäre ihm gegenüber nicht anständig.
»Nichts, Papa. Ich bin jetzt müde.« Sie gibt ihm einen Kuß auf die Wange. »Gute Nacht, Papa.
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