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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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unsere Kleider und unsere Haut sehen und unsere Knochen und sogar das Mark darin untersuchen. »Er läßt dich grüßen.«
    Einen Augenblick lang hatte ich ein schlechtes Gewissen und verspürte einen kleinen Stich, als würde mir ein Messer ins Fleisch gestoßen und gleich darauf wieder zurückgezogen. Ich wußte, daß ich hätte kommen sollen, wegen ihr und Tommy, aber ich schob den Gedanken beiseite. Ich hatte es nicht ändern können. Proks Zeitplan stand Monate im voraus fest, und ich hatte keinerlei Einfluß darauf. »Ich wollte, ich wäre gekommen«, sagte ich und sah über die Schulter zur Rezeptionistin (es war nicht die Blonde mit dem strähnigen Haar, sondern eine neue, untersetzt, mit kalkweißem Gesicht und einer Frisur wie ein Bündel Treibholz). Sie senkte den Blick. Ich wandte mich wieder zu Iris, zu Iris, deren Hand ich hielt, und sagte: »Du mußt ja sterben vor Hunger. Wie wär’s mit einem schönen Steak?«
    Jetzt, da sich mein Leben in geregelten Bahnen bewegte – so geregelt jedenfalls, wie es bei einem jungen Mann, der seinen Einberufungsbescheid erwartete, möglich war –, konnte ich mich mit Iris treffen, sooft ich wollte. Ich mußte nicht mehr an Seminaren teilnehmen, Prüfungen ablegen oder Hausarbeiten schreiben, und die Arbeitszeiten bei Prok waren ziemlich geregelt, überstiegen allerdings bei weitem die üblichen vierzig Wochenstunden. Unser einziges Problem waren die Reisen – jede zweite Woche war ich drei bis vier Tage mit Prok unterwegs, und es dauerte nicht lange, bis wir noch mehr reisten –, aber Iris und ich stellten uns darauf ein, weil es uns wichtig war. Zuvor hatten wir uns hin und wieder verabredet und uns vorsichtig, ohne Eile, Druck oder gegenseitige Verpflichtung abgetastet, doch das war nun anders, grundlegend anders. Wir machten alles mögliche gemeinsam, wir trafen uns zum Essen, hörten Konzerte, gingen tanzen, wandern, Schlittschuh laufen, wir saßen abends im Aufenthaltsraum des Wohnheims so dicht nebeneinander, daß wir im selben Rhythmus atmeten; Iris las ihre Fachbücher, und ich vertiefte mich in Hirschfeld und Robert Latou Dickinson, um mich über die Literatur meines Fachgebiets auf dem laufenden zu halten. Das ging so weit, daß ich mich leer fühlte, wenn sie nicht da war, als hätte ich kein Ich, kein eigenes inneres Wesen. Wenn sie im Seminar war oder wenn ich arbeitete oder in einem zweitklassigen Hotel einem übergewichtigen Studenten gegenübersaß, der von Rita Hayworth besessen war und zu oft masturbierte, dachte ich an Iris, nur an Iris.
    Aus dem Herbst wurde Winter, und der Winter unterlegte auch die Ferien und den Jahreswechsel (wir fuhren gemeinsam mit dem Bus zu unseren Familien in Michigan City, und alles erschien uns freundlich und wie neu, trotz der Tatsache, daß Tommy eingezogen worden war und die Nazis, die Faschisten und die kaiserlich japanische Armee an allen Fronten unaufhaltsam vorrückten). Im sonnenlosen Januarzwielicht kehrten wir zurück. Der Campus war unter Schnee begraben, und es pfiff ein Wind, gegen den Mützen und Schals nichts ausrichten konnten. Wie das Gesetz es befahl, hatte ich mich wie alle anderen Männer zwischen einundzwanzig und fünfunddreißig Jahren bei der Einberufungsbehörde gemeldet, aber meine Nummer war noch nicht dran, und so machten wir weiter wie zuvor und verbrachten jede freie Minute miteinander. Alles war gut. Wir waren glücklich. Ich schrieb Paul Sehorn lange, im Plauderton gehaltene Briefe und stellte fest, daß ich vor mich hin pfiff, wenn ich jeden Abend nach der Arbeit über die Grünfläche zum Wohnheim der Studentinnen schlenderte – wo ich es nicht lassen konnte, ein wenig mit der Rezeptionistin zu scherzen, die inzwischen so harmlos und vertraut wirkte wie eine liebevolle Großmutter, obgleich sie kaum zwanzig war.
    Es gab jedoch ein großes Problem – Sie ahnen wahrscheinlich, welches. Sex. Sex war das Problem. Selbst wenn Iris dazu bereit gewesen wäre – und angesichts ihrer Herkunft und der Tatsache, daß sie Jungfrau war, konnte ich mir damals in diesem Punkt nicht sicher sein –, gab es absolut keinen Ort, wo wir es hätten ausprobieren können. Als ich Laura Feeney vor einem Jahr in einem Anfall sexueller Umnachtung meinen Vorschlag gemacht hatte, war das bloß heiße Luft gewesen: Ich hätte nicht mit ihr auf mein Zimmer gehen können, es sei denn, Mrs. Lorber hätte zufällig in dem Augenblick, da ich diese Frage stellte, der Schlag getroffen. Und selbst wenn es mir

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