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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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hoffnungslosen Ton ihrer Stimme, »ich habe nicht leicht reden. Ich hatte nie leicht reden. Weißt du, was ich mir wünsche?«
    Ich sage nichts. Diese Genugtuung soll sie nicht bekommen.
    »Ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet, ich hätte nie auch nur von ihm gehört. Ich wünschte, er wäre nie geboren worden.«
Ich höre unseren Sohn in seinem Zimmer über uns hin und her gehen, den dumpfen Klang seiner Schritte, der an entfernten Donner erinnert. Iris reckt das Kinn und strafft die Schultern wie eine Kriegerin. Geringschätzig wendet sie sich ab und geht mit raschen, energischen Schritten zur Tür. »Binde deine Krawatte um«, schnauzt sie über die Schulter, und dann ist sie weg. Oder nein. Da ist sie wieder, wie ein Schachtelteufelchen, ihr Kopf ist eingerahmt von der Tür, und ihr wütender Blick geht von mir zum Kassettenrekorder und wieder zurück. »Und mach das verdammte Ding aus!«

TEIL I - INSTITUT FÜR BIOLOGIE
1
    So großspurig ich mich in der Kneipe auch gegeben hatte – ich muß doch zugeben, daß mir vor dem Interview mulmig war. Ich weiß, das klingt lächerlich, denn nur Corcoran und Prok selbst haben mehr als ich zu diesem Projekt beigetragen. Ich habe immerhin ungefähr zweitausend Interviews selbständig geführt, aber wenn ich ehr-lich bin, hatte ich damals Angst. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen: Ich war verschüchtert. Sie müssen sich vor Augen halten, daß über Sex und Sexualität einfach nicht gesprochen wurde – nirgendwo, ganz gleich, in welchem Kreis –, und gewiß nicht im Hörsaal irgendeiner Universität. An anderen Colleges und Universitäten im ganzen Land wurden, hauptsächlich als Reaktion auf die in den dreißiger Jahren verbreitete Angst vor Geschlechtskrankheiten, Ehevorbereitungskurse angeboten, doch diese Kurse waren nichtssagend und voller Euphemismen, und ein Durchschnittsamerikaner, der so etwas wie eine Beratung wollte, eine freimütige Erörterung sexueller Vorlieben und Abartigkeiten, mußte feststellen, daß dergleichen, abgesehen von den Banalitäten des örtlichen Pfarrers oder Priesters, nicht zu haben war. Und darum, wiederholte Dr. Kinsey in seiner letzten Vorlesung, sei er im Begriff, ein bahnbrechendes Forschungsprojekt zu beginnen: Er wolle das sexuelle Verhalten unserer Spezies beschreiben und quantifizieren, um zu enthüllen, was jahrhundertelang unter dem Schleier von Tabus, Aberglauben und religiösen Verboten verborgen gewesen sei, und die Daten denen, die ihrer bedürften, zugänglich zu machen. Und er appellierte an uns – die lüsternen, fiebernden, schwitzhändigen Studenten im Auditorium –, ihm dabei zu helfen. Er hatte soeben die Vorlesungsreihe rekapituliert und seine Bemerkungen über individuelle Abweichungen sowie über Empfängnisverhütung zusammengefaßt (wobei er, gleichsam als Nachgedanken, hinzugefügt hatte, bei der Verwendung von Kondomen könnten die natürlichen Sekrete der Cowper-Drüse des Mannes durch Speichel substituiert werden), und nun stand er vor uns, mit wachem Gesichtsausdruck, die Hände auf dem Rednerpult gefaltet.
    »Ich appelliere an Sie alle«, sagte er nach einer kleinen Pause, »mich aufzusuchen und mir die Geschichte Ihres Sexuallebens zur Verfügung zu stellen, denn diese Geschichten sind für unser Verständnis der menschlichen Sexualität unentbehrlich.« Das Licht war trüb und gleichförmig, der Saal überheizt, und es hing ein leichter Geruch nach Staub und Bohnerwachs in der Luft. Draußen färbte der erste Schnee des Winters die Erde für kurze Zeit weiß, doch das nahmen wir sowenig wahr, als säßen wir in einem Bunker. Einige rutschten auf den Sitzen hin und her. Die junge Frau in der Reihe vor mir sah verstohlen auf ihre Uhr.
    »Wir wissen mehr über das Sexualleben der Drosophila melanogaster – einer Fruchtfliege – als über eine der gewöhnlichsten, alltäglichsten Aktivitäten unserer eigenen Spezies«, fuhr er mit fester Stimme fort und sah uns an. »Wir wissen mehr über die Verhaltensweisen eines Insekts als über das, was in den Schlafzimmern dieses Landes – und übrigens auch auf Wohnzimmersofas und den Rücksitzen von Automobilen – vor sich geht, über die Vorgänge, denen jeder einzelne von uns es verdankt, daß er jetzt hier, m diesem Raum, sein kann. Ist das wissenschaftlich sinnvoll? Ist es auch nur ansatzweise rational oder vertretbar?«
    Laura saß neben mir und hielt den Schein unserer Verlobung aufrecht, obgleich sie sich im Verlauf des Semesters ziemlich

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