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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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erwarten, daßyWe Verlobung hält.«
In diesem Punkt wollte ich ihr nicht recht geben. Ich spürte etwas, was ich noch nie zuvor gespürt hatte, und ich hätte es nicht definieren können, nicht als der Mensch, der ich damals war, nicht mit den Begriffen, die mir damals zu Gebote standen, aber vielleicht kann ich sagen, daß ihr Gesicht in dem Licht, das aus den hohen Bogenfenstern drang, wie ein kleines Wunder war und daß ich mich an den Kuß in der Kneipe erinnerte und daran, wie sie sich im Hörsaal auf dem Platz neben mir bewegt hatte. Kann ich das sagen und es dabei belassen?
»Und was ist mit disziplinarischen Maßnahmen?« sagte ich.
Sie lachte kurz auf. »Disziplinarische Maßnahmen? Soll das ein Witz sein?« Sie sah zu Jim Willard und dann wieder zu mir. »Disziplinarische Maßnahmen – ganz gleich, von wem – sind mir völlig egal.«
Und so ging ich allein zum Institut für Biologie und folgte dem zarten Duft ihres Parfüms, der noch in der Luft hing. Ich hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, und unter dem Arm trug ich einen Stapel Bücher. Wie die meisten anderen Universitätsgebäude war auch dieses aus Kalkstein, der in der Gegend gebrochen worden war. Gleich einem entweihten Tempel erhob es sich aus dem schwarzen Griff der Bäume, der Himmel im Hintergrund hatte beinahe alles Licht verloren, und ich dachte unwillkürlich, wie anders es im September ausgesehen hatte, eingebettet in buntes Laub. Als ich auf den Weg zum Eingang abbog und dürre Blätter unter meinen Füßen raschelten, war mir mit einem Mal beklommen zumute. Ich kannte Prok noch nicht – oder vielmehr kannte ich ihn nur als eine entfernte, mit einer Funktion versehene Gestalt auf dem Podium –, und ich fragte mich besorgt, was er von mir denken würde. Nicht nur die List, zu der Laura und ich gegriffen hatten, warf einen Schatten auf mich, sondern auch meine Geschichte. Ich schämte mich ihrer, ich schämte mich dessen, was ich war und was ich getan hatte. Niemals hatte ich das Thema Sex angeschnitten, nicht gegenüber meinen besten Freunden, nicht gegenüber dem Vertrauenslehrer und auch nicht gegenüber dem Onkel (Robert, dem jüngsten Bruder meines Vaters), der sein Bestes getan hatte, die Stelle meines toten Vaters auszufüllen, bis ihn die Wanderlust packte und er ebenfalls verschwand.
Ich wälzte diese Gedanken im Kopf herum und fragte mich, was Dr. Kinsey von mir würde wissen wollen und ob ich es wagen konnte, ausweichende Antworten zu geben – oder zu lügen, knallhart zu lügen –, als die Tür aufgestoßen wurde und Laura aus dem Gebäude trat. Sie trug einen dunklen Mantel mit Gürtel, weiße Söckchen und sportliche Schuhe, ihre Waden waren schutzlos der Kälte ausgesetzt, und vor dem aufragenden Gebäude und dem großen, gewichtigen Rechteck der Tür sah sie klein und zerbrechlich aus. Eine Windbö kam, ihre Hände griffen unwillkürlich nach dem Hut, und hätte sie nicht in diesem Moment aufgeblickt und mich gesehen, dann hätte ich vielleicht auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre verschwunden. Doch sie blickte auf. Und sie sah mich eigenartig an, als könnte sie sich nicht genau an mich erinnern oder als sähe sie mich zum ersten Mal außerhalb der gewohnten Umgebung. Ich hatte keine andere Wahl, als weiter auf den Eingang zuzusteuern, und da bedachte sie mich mit einem reumütigen Blick. »Jetzt bist du dran, hm?« sagte sie. Sie stand auf dem Treppenabsatz und hielt mir die Tür auf. »Was wollte er wissen?« schnaufte ich und sprang, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf. Der Korridor hinter ihr lag verlassen da. Ich sah das matte Glänzen des Linoleumbodens, die in Abständen montierten Lampen und die dunkle Treppe, die am anderen Ende gähnte.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie, und ihr Atem dampfte in der kalten Luft. »Alles.«
»Hat er auch nach ... nach uns gefragt?«
»Mh-mh. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß ihn das so interessiert. Er ... er ist wirklich überzeugt von dem, was er tut, und er will, daß die Leute ... sich öffnen. Ja, so muß man das wohl nennen. Es geht nur um Forschung, es geht darum, an die eigentliche Wahrheit heranzukommen, und wie er das macht... Ich meine, es ist nicht das, was du denkst. Es ist nicht peinlich, überhaupt nicht. Du wirst schon sehen. Er hat eine sehr entspannende Art.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte. Sie stand neben mir, so nah, daß ich das schwache Aroma der Pfefferminzzahnpasta riechen konnte, das sich mit den Düften von Parfüm

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