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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und Shampoo vermischte. Ihr Gesicht war freimütig, die Lippen waren geöffnet, doch ihre Augen blickten an mir vorbei, als erwartete sie, daß Jim Willard – oder Prok selbst – unter der Reihe von Bäumen an der Straße hervortreten würde. Sie starrte einfach in die Ferne, als wäre sie gerade erst erwacht – oder als wäre sie von einem der Scharlatane beim Landwirtschaftsfest hypnotisiert worden. Der Wind wehte mir ins Genick, und ich spürte die warme Luft, die aus dem Gebäude strömte, wie den Atem eines Tieres auf meinem Gesicht. »Er hat dich doch nicht hypnotisiert oder so?«
Sie musterte mich lange und ausgiebig. »Nein, John«, sagte sie ziemlich von oben herab, »nein, er hypnotisiert einen nicht. Aber hör zu« – sie schob eine lose Strähne unter den Hut –, »ich hab mich noch gar nicht richtig für das bedankt, was du getan hast. Viele Männer, die ich kenne, wären niemals in diese Vorlesung gegangen – das war wirklich toll von dir. Also danke. Das meine ich ganz ernst.«
»Klar«, murmelte ich, »war mir ein Vergnügen«, und dann ließ sie den Türflügel los, und ich paßte ihn mit einer Hand ab und trat ins Gebäude, während Laura die Eingangstreppe hinunterging.
Dr. Kinseys Büro befand sich am Ende des Flurs im ersten Stock. Mein Termin war der letzte an diesem Tag, und die Korridore, in denen es noch vor einer Stunde von Studenten gewimmelt hatte, waren jetzt verlassen. Auch die Angestellten und Mitarbeiter waren nach Hause gegangen – sämtliche Büros und Unterrichtsräume waren dunkel. Sogar der Hausmeister hatte offenbar anderswo zu tun. Am Trinkbrunnen blieb ich stehen – meine Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet –, dann ging ich weiter, und meine Schritte hallten in dem leeren Gebäude wider wie Gewehrschüsse. Durch ein tristes, fensterloses kleines Vorzimmer kam man in das gedämpft beleuchtete Büro. Die Tür stand offen, und ich sah zwei vollgestopfte, bis zur Decke reichende Metallregale, dann einen Haarschopf, der wohl nur der Kinseys sein konnte. Er beugte sich im sanften gelben Licht über einen Tisch. Ich zögerte einen Augenblick und klopfte dann an den Türrahmen.
Er reckte den Kopf zur Seite, um die Tür besser zu sehen, und sprang dann auf. »Milk?« rief er, eilte mit ausgestreckter Hand auf mich zu und machte dabei ein so entzücktes Gesicht, als wäre ich von allen Menschen auf der Welt der einzige, dessen Erscheinen ihn überglücklich machte. »John Milk?«
Ich schüttelte ihm die Hand, nickte und stammelte die üblichen Begrüßungsfloskeln. Ich sagte vielleicht: »Freut mich«, allerdings so leise, daß er es wahrscheinlich gar nicht hörte.
»Gut, daß Sie gekommen sind«, sagte er und hielt noch immer meine Hand. Wir standen einen Augenblick in der Tür, und mir wurde bewußt, wie groß er war – mindest eins sechsundachtzig – und daß er eine enorme körperliche Präsenz besaß. Ich dachte, daß er es, wenn er gewollt hätte, ohne weiteres mit Jim Willard hätte aufnehmen können. »Aber kommen Sie doch herein«, sagte er, ließ meine Hand los und führte mich in sein Büro, wo er auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zeigte. »Milk«, sagte er, während ich mich setzte und er ebenfalls wieder am Schreibtisch Platz nahm, »ist das ein deutscher Name – ursprünglich, meine ich?«
»Ja. Früher hießen wir Milch, aber mein Großvater hat das ändern lassen.«
»Zu eindeutig teutonisch, hm? Es gibt natürlich kaum etwas Robusteres als einen Amerikaner mit englisch-deutschen Vorfahren – außer einen mit schottischen Vorfahren vielleicht. Ich bin schottischer Herkunft, aber das haben Sie sicher schon aus meinem Namen geschlossen. Möchten Sie eine Zigarette?«
Zigarettenschachteln lagen, ausgebreitet wie eine Opfergabe, vor mir auf dem Tisch, vier verschiedene Marken; daneben Feuerzeug und Aschenbecher. Damals wußte ich noch nicht, wie sehr Prok das Rauchen verabscheute – er fand, es solle an allen öffentlichen und den meisten privaten Orten verboten werden – und daß er Zigaretten ebenso wie Limonade, Kaffee, Tee und, unter den entsprechenden Umständen, auch alkoholische Getränke nur anbot, um die InterviewSituation angenehmer zu gestalten. Er wollte vor allem eine intime Atmosphäre schaffen, die Vertraulichkeit ermöglichte, und hier war er wirklich ein Genie – er nahm den Leuten die Befangenheit und brachte sie dazu, aus sich herauszugehen. Wäre es nicht so gewesen, dann wäre dieses ganze Projekt nie in Gang gekommen.
Jedenfalls

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