Dr. Siri sieht Gespenster - Cotterill, C: Dr. Siri sieht Gespenster - Thirty-Three Teeth
kommen und nicht in dessen finsteres Pendant. Er sah kein Feuer, hörte keine Popmusik und roch auch keinen Opiumrauch, somit war seine Hoffnung vielleicht nicht ganz unberechtigt.
»Hast du mir vergeben, Herr?«
Nur die Truhe verwirrte ihn.
Er war erst weit nach Mitternacht im Tempel angekommen. Als er das Rathaus verlassen hatte, war die Feier noch in vollem Gange gewesen. Nicht einmal die Wachleute waren bis zum Schluss geblieben.
Siri hatte sich seit einer Ewigkeit nicht mehr so prächtig amüsiert. Die improvisierte Show der Schamanen: Sie parodierten die Beamten und die hitzige Debatte der Geister über die Frage, welche Alternative wohl die beste sei und wie man sie am günstigsten in den Nordosten expedieren könne. Glänzende Unterhaltung für eine Stadt, der man das
Herz herausgerissen hatte. Doch mit seiner Vermutung, bei der Scheinséance seien keine Geister erweckt und herbeigerufen worden, hatte er grundfalsch gelegen.
Der Nachtwächter des That-Luang-Tempels lag neben der Treppe und schlief. Siri ging in die Gebetshalle und holte seine Tasche hinter den Buddhastatuen hervor. Er durchwühlte den Inhalt, förderte sein Lendentuch zutage, zog sich aus und ging zu den Tonkrügen hinaus, um sich zu waschen.
Er hatte eben den Rückweg angetreten, als sich die Störung zum ersten Mal bemerkbar machte. Zunächst glaubte er, ein Wassertropfen habe sich in sein Ohr verirrt, und schüttelte den Kopf, um ihn wieder loszuwerden. Aber der Druck verwandelte sich in einen Ton, ein überaus lästiges metallisches Pfeifen, so schrill, dass es ihm durch Mark und Bein ging.
Die Tempelhunde dösten zufrieden. Die Vögel schliefen in den Bäumen und ließen sich von dem nervtötenden Geräusch nicht stören. Offenbar konnte nur er es hören. Er folgte ihm bis zur Quelle, der zerstörten Stupa hinter der blauen Plastikabsperrung. Je näher er kam, desto ohrenbetäubender wurde das Geräusch, desto schmerzhafter der Druck auf seinen Trommelfellen. Er sah in das Fundament des von reichlich Mondlicht erhellten Stupasockels hinab, konnte aber nichts erkennen. Und doch sagte ihm sein Instinkt, dass sich darin etwas befinden musste, das ihn zu sich rief.
Er stieg in das gemauerte Geviert hinunter und tastete sich vorsichtig zur Mitte vor. Dort räumte er das Geröll beiseite, kniete sich hin und fing mit bloßen Händen an zu graben. Das Erdreich unter dem Schutt war mulchig, weich und voller warmer Regenwürmer. Je tiefer er grub, desto lauter wurde das Geräusch.
Er war so sehr in seine Arbeit versunken, dass er nicht bemerkte, was um ihn herum vor sich ging. Die zerstörte Stupa fügte sich von selbst wieder zusammen. Ein Ziegel nach dem anderen kehrte an seinen Platz zurück, der Mörtel wurde fest. Doch Siri hatte nur ein Ziel: Er musste das Geräusch abstellen.
Obwohl er sie noch nicht sehen konnte, hatten seine Hände die Quelle des Ungemachs bereits gefunden. Kaum berührten sie den kühlen Stein, wusste er, was ihn hierhergelockt hatte. Er fühlte den Lederriemen, an dem das schwarze Amulett befestigt war. Die Konturen und die geriffelte Oberfläche waren ihm wohlvertraut. Er spürte die Macht der Phibob , die von ihm Besitz ergriffen hatten. Sie zogen ihn – mit der Kraft von tausend bösen Geistern, erfüllt von unstillbarer Rachlust – in den Tod.
Er spürte, wie sein Arm in die Erde gerissen wurde. Maden und Tausendfüßler hefteten sich an seine nackte Haut und zerrten ihn mit in die Tiefe. So sehr er sich auch bemühte, er konnte das Amulett nicht loslassen. Bald war er bis zu den Schultern im Boden versunken. Wie ein Ertrinkender richtete er den Blick gen Himmel, um ein letztes Mal nach Luft zu schnappen.
Da sah er, dass die Stupa vollständig wiederhergestellt war. Er war eingemauert. Der verbrauchte Atem der vergangenen vierhundert Jahre schwängerte die Luft. Gierig sog er den modrigen Geruch in seine Lunge. Dann verschluckte ihn die Erde, und er versank. Nach ein paar Sekunden ging ihm die Puste aus. Er versuchte die Luft so lange wie möglich anzuhalten, aber er wusste, dass es zwecklos war. Es hatte keinen Sinn zu atmen. Er konnte nur noch warten.
Als Pathologe wusste er genau, was mit ihm vor sich ging. Sein Gesicht begann zu zucken, als die Muskeln sich
verkrampften. Das Röcheln des Todes stieg ihm in die Kehle, und er setzte sich ein letztes Mal mit aller Kraft zur Wehr, bis sein Herz zu schlagen aufhörte. Kurz vor dem endgültigen Aus hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Es
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