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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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um dem größten und ältesten Drachen entgegenzutreten.
    Die gemurmelten Gebete von zwei Dutzend Mönchen unterschiedlichen Alters begleiteten ihn, und auch die Mönche selbst begleiteten die Wanderer – bis dorthin, wo der Berg wieder steiler wurde und unter dem Schnee das Eis hervorblitzte. Dort blieben sie zurück, und als Jumar sich eine Weile später umdrehte, standen sie noch immer auf dem weißen Blatt des Schnees wie mit einem roten Stift in die Landschaft gezeichnet, und die kleinsten unter ihnen winkten ihnen lange nach.
    Der Weg war glatt und gefährlich. Manchmal mussten sie sich auf allen vieren voranbewegen, um nicht auszurutschen. Sie zogen sich gegenseitig hinauf, stützten sich, keuchten und fluchten – ja, selbst das Fluchen hatte der Kronprinz des Landes auf seiner Reise inzwischen gelernt. Die Anstrengung ließ sie die Kälte vergessen, und das war gut so, denn die Kälte hier oben war die kälteste Kälte, die es gab. Nichts konnte in ihr leben, kein Tier, keine Pflanze: nichts außer den Drachen.
    Christopher war dankbar für jede Faser der Kleidung, die er trug. Aber lange konnten auch sie nicht hierbleiben. Irgendwann würde die Kälte ihren Weg durch die Mützen und Jacken finden, würde in die Stiefel kriechen und sich dort einnisten, wie sie es schon einmal getan hatte, damals, unten, im Schneetreiben –nur war dies eine noch viel größere, tödlichere Kälte.
    Sie sahen die Höhlen gegen Abend, schwarze, kreisrunde Löcher im Eis, wie die Nester von Schwalben.
    »Sie sehen aus wie ihre Augen«, flüsterte Jumar. »Genauso tief und leer und dunkel.«
    Keiner der Drachen war zu sehen, und sie warteten unterhalb der Höhlen, bis die Sonne unterging.
    »Was für ein Glück auch«, sagte Niya, »dass sie uns auf dem Weg hier herauf nicht vorsorglich in Bronze verwandelt haben.«
    Aber Jumar konnte hören, dass sich hinter der Schroffheit ihrer Stimme die Angst verbarg, eine Angst, nackt und blank wie das Eis, über das sie gegangen waren.
    »Was wirst du tun?«, fragte sie ihn. »Wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen, um einen Drachen zu finden, dem du das Herz herausreißen musst, um sichtbar zu werden. Aber du hast uns noch immer nicht gesagt, wie du das anstellen willst. Und wir können nicht einmal sichergehen, dass es funktioniert.«
    »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Jumar ehrlich. »Ich werde es mir überlegen, wenn ich ihn sehe.«
    Christopher seufzte. »Er erledigt alles im Leben auf diese Weise«, sagte er.
    »Und – funktioniert es?«, fragte sie zweifelnd.
    Jumar spürte, wie Christopher nachdachte. »Schwer zu sagen. Immerhin haben wir das Kloster gefunden und die Wahrheit erfahren ...«
    »Duckt euch!«, zischte Niya.
    Jumar sah auf. Und da war er – der Drache. Es war derselbe, der ihn in der Steilwand beinahe zu Bronze verwandelt hatte; er erkannte ihn wieder: die türkisfarbenen Schwingen, den violetten Körper, seine Krallen, seinen Schatten auf dem Schnee. Aber noch während er sich von unten in weiten Schleifen heraufschraubte, verblasste der Schatten. Die ganze Welt verblasste. Nacht hüllte sie ein. Selbst das Licht der Sterne verbarg sich hinter einer Wolkendecke, und alles, was sie noch sahen, war der Drache: der vage Schimmer, der von seinem Körper ausging, glimmend wie eine beängstigende Ahnung – und mitten in diesen Schimmer von Ungewissheit und Bedrohlichkeit die brennenden Augen – jetzt, in der Dunkelheit, glühten sie wie Kohlenfeuer am Himmel.
    Jumar rückte das Gewehr auf seiner Schulter zurecht, das er trug, seitdem sie die geschmolzene Stadt verlassen hatten. »Jumar, du kannst ihn nicht erschießen. Ich habe es versucht. Die Kugel ist direkt durch ihn hindurchgedrungen, und alles, was vom Himmel fiel, ist das hier.«
    Er beäugte den reglosen blauen Schmetterling auf ihrer flachen Hand.
    Dann sah er wieder nach oben, wo die Augen des Drachen davon kündeten, dass er vor seiner Höhle gelandet war, und gleich darauf verschwanden.
    »Ich werde jetzt zu ihm hinaufgehen«, sagte Jumar und schluckte. »Ich weiß nicht, was geschehen wird. Vielleicht zerfetzt er mich mit seinen Klauen. Vielleicht verwandelt er mich in irgendetwas. Kommt nicht weiter mit als bis zum Eingang der Höhle.«
    Sie nickten stumm, und Jumar hörte ihren Atem hinter sich in der Nacht. Dieses letzte Stück Weg war das schlimmste ihrer ganzen Reise. Er setzte Fuß vor Fuß, als trüge er bleierne Schuhe, und sein Atem ging stoßweise.
    Ich bin der Kronprinz, sagte er im

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