Drachen der Finsternis
einem unsteten Tanz über die weißen Wände. Er spürte Jumars Hand auf seinem Knie und tastete nach den unsichtbaren Fingern, um sie festzuhalten.
»Das Herz des ersten Drachen«, sagte der Mönch, und Christopher hörte, dass seine Stimme in den vierzehn Jahren alt und müde geworden war, »jenes Herz besteht aus deinen Farben. Und dafür hat es nicht ausgereicht, nur die Farben fortzunehmen. Jedes einzelne, winzige bisschen Sichtbarkeit deines Körpers ist in das Herz des Drachen geflossen. Nur so konnte er geboren werden. Zuerst war er scheu. Zuerst wusste er nicht, wie mächtig er war. So ist er in die Berge geflogen. Aber nach und nach hat er gemerkt, dass niemand ihm etwas anhaben kann. Er hat sich geteilt und weiter vermehrt, und die Drachen haben sich über die Jahre weiter und weiter hinuntergewagt.
»Aber ... dann ist es also gar nicht meine Schuld«, wisperte Ju-mar. »Ich dachte die ganze Zeit über, es wäre meine Schuld, aber das ist nicht wahr.«
Der Mönch lächelte. »Wie sollte es deine Schuld sein? Das Leben ist nicht gerecht. Wer Unrecht erbt, trägt niemals Schuld. Auch Niya trägt keine Schuld daran, dass Kartan ihre Eltern getötet hat. Auch Christopher trägt keine Schuld daran, dass sein Bruder in der geschmolzenen Stadt gefangen sitzt.«
»Ihr ... Ihr wisst...?«, fragte Niya.
»Ich weiß vieles.«
»Es ist nicht unsere Schuld«, sagte Christopher langsam, »aber es ist an uns, die Dinge zu ändern. Ist es das, was Ihr uns erklären wolltet?«
»Ich will euch gar nichts erklären. Ich erlaube mir kein Urteil, und ich gebe euch keinen Rat. Ihr seid gekommen, um die Wahrheit zu erfahren, und ich habe euch die Wahrheit gezeigt. Das ist alles.«
»Ihr habt die Drachen ins Leben gerufen«, sagte Jumar. »Könnt Ihr sie nicht zurückrufen? Könnt Ihr nicht alles wieder so werden lassen, wie es war?«
Da lächelte der Mönch abermals. Und er schwieg.
Und sie wussten, was sein Schweigen bedeutete:
Nein.
Er hatte nicht verziehen. Vielleicht würde er niemals verzeihen.
Jumars Stimme war klein und leise, als er fragte: »Ist es wahr, was man sagt, über die verwandelten Menschen, auf die der Schatten der Drachen gefallen ist? Können sie zurückverwandelt werden, wenn ein Drache sie streift?«
»Auch ich habe gehört, was man sagt«, antwortete der Mönch bedächtig. »Und man hört so einiges in diesem Land, nicht wahr? Man hört, was die Drachen verwandeln, können sie auch zurückverwandeln. Man hört, es wären die Schuppen auf ihren Flügeln, die dazu vonnöten sind. Ach, man hört eine Menge. Aber niemand hat je gehört, dass einer einen Drachen gefangen hätte.«
Schweigen senkte sich auf den Raum wie der Schatten eines Wesens, das größer und mächtiger war als alle Drachen.
»Ich – ich muss den ersten, ältesten von ihnen finden«, flüsterte Jumar und drückte Christophers Hand so fest, dass es wehtat. »Ich brauche sein Herz, um sichtbar zu werden. Wenn ich nur wüsste, wo ich beginnen soll zu suchen!«
»Diese ist die einzige Frage, die ich dir beantworten kann, mein Junge«, sagte der Mönch. »Sie hausen in der Spitze des Berges. Noch habt ihr die Spitze nicht erreicht, noch müsst ihr ein Stückchen wandern. Dort, hoch oben, auf dem Gletscher, haben sie ihre Höhlen im glänzenden Eis. Den Klöstern können sie nichts anhaben, und wir beobachten ihren Flug an klaren Tagen. Ich vermag dir nicht zu sagen, wie du den Drachen besiegen kannst. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt möglich ist. Aber dort oben, in der Spitze des Berges, im Eis, dort wird er auf dich warten.«
»Es ist spät«, sagte Niya. »Können wir irgendwo im Kloster übernachten? Wenn wir schon einem Drachen zum Opfer fallen, möchte ich das ausgeschlafen tun.«
Der Mönch nickte. »Hier ist es warm und windgeschützt. Bleibt hier.«
Damit erhob er sich, nahm die Lampe mit und ließ sie im Dunkeln zurück.
Christopher stand auf und trat in den Hof hinaus ... und dort lag sie in der Nacht, schmal und weiß: eine dünne Mondsichel, kaum mehr als ein Strich.
»Morgen Nacht«, sagte Christopher, als er sich auf dem Boden neben Niya und Jumar zusammenrollte. »Morgen Nacht muss Neumond sein. Begreift ihr? Neumond! Es wird keinen Mond geben, der uns verrät! Keinen Mond, der Schatten wirft! Morgen Nacht müssen wir den Gipfel erreichen.«
»Ihr kommt also mit mir?«, fragte Jumar.
Christopher schnaubte. »Was für eine Frage!«
Und so kam der Tag, an dem der nepalesische Thronfolger aufbrach,
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