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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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eine Handbreit über ihren Köpfen, körperlos. Er hörte den Lärm, hörte die Rufe, die durch die Luft flirrten: »Wo sind sie? Schon nahe? Schon um die Ecke? Schon in dieser Straße? Da! Da kommen sie! Da!«
    Und dann sah er sie; die Prozession.
    Voran marschierten die Soldaten, Reihe um Reihe, herausgeputzt und stramm wie aus Zinn. Eine Kapelle spielte, und die Kinder in der Menge tanzten zwischen den Beinen der Erwachsenen zu ihrer Musik. Danach kamen Männer und Frauen des Palastes, flankiert von mehr Soldaten, die Saris der Frauen glänzten golden und rot, und die Männer gingen ernst in ihren Anzügen einher wie Abgeordnete einer Delegation zur ausschließlichen Erhaltung der Würde an sich, und dann, in der Mitte des Zuges, kamen die Sänften.
    Es waren ihrer drei: zwei große und eine kleine, deren Traghölzer auf den Schultern prächtig gekleideter Träger ruhten, deren Gesichter eine Feierlichkeit jenseits von Worten ausstrahlten.
    Die Vorhänge der Sänften waren zur Seite gezogen, sodass die darin befindliche wertvolle Fracht der Menge winken konnte: In der ersten Sänfte saß ein Mann, in der zweiten eine Frau, kaum sichtbar unter all dem Schmuck, den sie trug. Die dritte Sänfte schien leer zu sein, niemand winkte aus ihren Fenstern. Aber nein – Christopher erinnerte sich, und dann erhaschte er einen Blick hinein: Darin stand eine Truhe, reich verziert mit Goldbeschlägen, verschlossen.
    Die Macht des Königs.
    Die Menschen warfen rot gefärbten Reis und Blumen, jubelten und streckten ihre Hände nach den drei Sänften aus, ohne sie berühren zu können.
    Dann brach einer durch die Reihe der Soldaten, ein Mann in einem orangefarbenen Gewand, um den Bauch nur eine einfache Schnur geschlungen, den Kopf kahl rasiert: Christopher erkannte ihn zuerst nur an seiner Kleidung, denn nun war er jünger: der Mönch.
    Und er begriff, endlich begriff er: Das Kathmandu, das er vor sich sah, war ein Kathmandu vor vierzehn Jahren. Aber der Mönch, der durch die Hände der Soldaten schlüpfte, war derselbe, der mit ihnen gesprochen hatte. Als Christopher einen kurzen Blick auf sein Gesicht erhaschte, gab es keinen Zweifel mehr. Er hatte die gleiche Art, die Stirn zu runzeln, den gleichen ernsten Blick. Sein langer Bart begann eben, sich weiß zu verfärben: ein Mann an der Schwelle zum Alter.
    Er erreichte die Sänfte der Königin, ehe jemand ihn daran hindern konnte, und lief neben ihr her, sein Kopf auf der Höhe des Fensters. Die Soldaten schienen unschlüssig, was sie tun sollten. Er war ein Mönch, ein Weiser. Sie ließen ihn gewähren.
    Wie in einem Film rückte die Szene näher, und Christopher sah jetzt das Gesicht der Königin und das des Mönchs ganz nah vor sich. Wie schön sie war, unter all den Ornamenten, die sie trug! Ihre Züge waren so fein, als hätte jemand sie in stundenlanger Arbeit aus Porzellan geformt, und ihre nachgezogenen Augenbrauen schwangen sich in einer dunklen Linie aufwärts, was ihr einen leicht erstaunten Ausdruck verlieh. Sie musste mehr als zehn Jahre jünger sein als der König.
    »Von heute an also wirst du die Königin dieses Landes sein«, sagte der Mönch. »Erinnerst du dich an mich?«
    »Ich erinnere mich«, erwiderte die Königin leise, und außer dem Mönch und Christopher hörte niemand ihre Worte. »Aber was damals war, ist nicht mehr wahr. Es ist zu lange her.«
    »Nichts wird unwahr durch die Zeit«, erwiderte der Mönch. »Es ist gefährlich zu vergessen. Du warst ein kleines Mädchen, im Dorf am Fuße des Berges, und du spieltest im Dreck, als ich dich das erste Mal sah. Vergiss den Dreck nie, in dem du spieltest, und auch den Hunger nicht.
    Vergiss nicht, wie ihr uns Mönche angebettelt habt, wenn wir in euer Dorf hinunterkamen. Ich sehe deine schmutzigen, ausgestreckten Hände noch vor mir –«
    »Schweig«, befahl die Königin.
    Aber der Mönch ließ sich nicht befehlen. »Wir haben immer gegeben«, fuhr er fort, »auch, wenn wir selbst nicht viel hatten. Bis ich eines Tages in deinen Augen las, das mehr aus dir werden würde ... ich habe dich in die Stadt geschickt, erinnere dich daran.«
    »Ich bin die Königin«, flüsterte die Königin mit kaum noch zurückgehaltenem Ärger. »Ich bin glücklich und schön. Ich habe alles, was ich brauche. Ich werde dem König einen Kronprinzen schenken.«
    »Und niemand weiß von jenem Dorf, dem Dreck, dem Hunger, nicht wahr? Es gibt die Vergangenheit nicht länger, nicht wahr? Du hast dir eine neue Vergangenheit

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