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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Trockenfleisch.
    Und auf ihrem endlosen Weg abwärts begann der Thronfolger Nepals von der Zeit danach zu träumen – der Zeit nach dem Chaos, der Zeit nach dem Tag, an dem sie die Drachen in die Stadt rufen würden: einer Zeit voller Ruhe, voller Bücher, voller Schalen mit Früchten und Badewannen.
    Er träumte sich durch drei Tage ihrer Wanderung, er spürte seine Füße nicht und dachte an das Danach: In seinen Träumen trug Niya keinen grün gefleckten Parka mehr und keine klobigen Stiefel, sie schwebte in sauberen Kleidern an seiner Seite durch die Korridore des Palasts, durch den Mittelgang eines Flugzeugs, Straßen in fernen Ländern entlang – und er brauchte nur die Hand auszustrecken, um die ihre zu berühren. In seinen Träumen lag kein Gewehr mehr über ihrer Schulter. In seinen Träumen war alles anders.
    Die Mondlandschaft blieb zurück, sie erreichten wieder die Steppe, in der es hier und da Dörfer gab, erste Büsche und geduckte Bäume trauten sich hervor, wurden mehr, und hier und da blickte ein grasendes Yak oder ein Muli aus dem niedrigen Gesträuch und beäugte sie verwundert. Sie fanden auch Wacholder, sie stolperten beinahe darüber, doch während er seinen Rucksack mit dem Wunderholz der duftenden Büsche füllte, träumte der Thronfolger Nepals weiter: Er träumte von seiner Mutter, die durch den Garten schlenderte und lauschte, während er ihr von seinen Abenteuern erzählte, und ab und zu ungläubig den Kopf schüttelte. Er träumte von seinem Vater, der ihm gegenüber in einem Restaurant in der Hauptstadt saß, kein König mehr, nur noch ein Vater, und der ihm sagte, wie stolz er auf ihn war. In seinen Träumen war sein Vater jünger und wieder gesund. In seinen Träumen hatte Kartan gelogen. Er hatte nie einen Tumor in seinem Kopf gehabt.
    Die Träume sahen die schwarz-weißen Flecken in der Landschaft und die Bronzefiguren in den Feldern, durch die sie jetzt hin und wieder kamen, aber sie schienen bereits einer furchtbaren Vergangenheit anzugehören.
    Am vierten Tag ihres Abstiegs wurde Jumar jäh aus seinen Träumen gerissen.
    Es gab jetzt schon wieder einzelne, hohe Bäume, und sie bewegten sich am Rand des ersten grünen Tales, wo der Reis an den Hängen wuchs und ein blauer Fluss in der Tiefe rauschte. An einem der Hänge klebte ein Dorf, und Jumar schickte seine Träume voraus.
    »Dort werden wir etwas zu essen bekommen, was noch nie eine Konservenbüchse von innen gesehen hat«, sagte er. Seine Schritte trugen ihn seinen Träumen nach, beflügelt, leicht, rasch –und als er sich umdrehte, hatte er die anderen weit hinter sich gelassen. Doch ihm war nicht nach Anhalten zumute, der Weg war hier breit und bequem, und seine Füße liefen wie von selbst weiter. Er winkte zurück und ging weiter. Bei den Häusern würde er auf sie warten. Er sah etwas Blau-Weißes aus der Ferne, etwas wie ein Schild für Touristen, und vielleicht waren sie in diesem Dorf tatsächlich auf Gäste eingestellt. Er würde sich auf einen Stuhl in einen Garten setzen, und jemand würde eine alte, laminierte Speisekarte mit Eselsohren und falschem Englisch hervorkramen, die noch aus der Zeit der Touristen stammte ... man würde ihn sehen, oh ja, ihn selbst. Zum ersten Mal müsste Christopher seiner Stimme keinen Körper leihen.
    Wie wunderbar würde das sein!
    Der Weg schlängelte sich kurvig den Hang hinunter, und dann hatte Jumar die ersten Häuser erreicht. Doch sie lagen seltsam still vor ihm. Er seufzte. Ein weiteres verlassenes Dorf.
    Kein Stuhl im Garten, keine laminierte, alte Speisekarte. Nur Melancholie und Vergangenheit in den leeren Gassen. Irgendwo schnaubte ein Pferd – hatten sie es vergessen?
    CHECKPOINT, las Jumar auf dem blau-weißen Schild, das ihn von ferne gelockt hatte.
    TO REST PEAS REGISTER HER.
    Er verkniff sich ein Grinsen. Um Erbsen auszuruhen, registriere sie. Vermutlich war es anders gemeint: Tourists please register here ... Touristen bitte hier melden.
    Aber da waren keine Touristen, schon lange nicht mehr, und da war vor allem niemand, um sie zu kontrollieren, in Listen einzutragen, zu zählen – es war gar niemand da.
    Eine hölzerne Tür klappte hinter dem blau-weißen Schild im Windzug hin und her, und Jumar öffnete sie und betrat einen leeren Raum. Große, glaslose Fenster nahmen die gesamte hintere Wand ein, hinter ihnen nichts, und weit unten das Flusstal. Der Register-Point hing halb in der Luft: malerische Höhen für einen womöglich etwas teureren Tee, ein gutes

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