Drachen der Finsternis
du jetzt schießt, sind wir alle tot«, zischte er. »Da unten ist eine halbe Armee unterwegs!«
Diesmal ließ Niya die Waffe sinken und nickte.
Und dann stand sie lange stumm mitten auf dem Weg und sah Kartan nach, bis er um eine weitere Biegung des Weges verschwand.
»Jumar«, sagte sie schließlich. »Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm fortgehen würde. Nach Europa. Oder nach Amerika.«
Sie lächelte, ihre Augen tränenleer.
»Sieht aus, als wäre er ohne mich fortgegangen«, sagte sie.
Sie suchten den Checkpoint und die übrigen Häuser ab, ohne eine Spur von Jumar zu finden.
Und als sie schließlich aufgaben und ihren Abstieg fortsetzten, klammerte Christopher sich an eine Hoffnung, von der er wusste, dass sie unsinnig war: Irgendetwas war geschehen, das Jumar zwang, sich zu verstecken – er war Kartan entkommen, und womöglich war er sogar wieder unsichtbar. Aber im rationaleren Teil seiner Seele begriff er die Ironie: Nach so vielen Beinahe-Be-gegnungen mit dem Tod, nach so vielem Gerade-noch-Entkom-men war es ein Zufall gewesen, nichts als ein dummer Zufall, der Jumar das Leben gekostet hatte.
Aber wie sollten sie ohne ihn weitermachen? Wie sollten sie nach Kathmandu gehen und seinen Plan ausführen?
Selbst Jumars Rucksack mit dem harzigen Holz des Wacholders war unwiderruflich verloren.
»Es kommt nicht darauf an, wie. Wir werden es tun«, sagte Niya. »Nur darauf kommt es an. Weißt du noch, was Jumar immer gesagt hat? Ich habe keine Ahnung, aber bis wir dort oder dort ankommen, wird mir schon etwas einfallen. Und ihm ist etwas eingefallen, jedes Mal. Habe ich recht?«
Christopher nickte.
»Wir lassen ihn nicht im Stich«, sagte Niya. »Nur, weil er vielleicht nicht mehr bei uns ist.«
Aber jeder Schritt, den sie an diesem Tag abwärtsgingen, schmerzte Christopher wie ein Messerstich, und jeder Meter zog sich endlos hin – und er wusste, dass es Niya genauso ging, auch wenn sie es nie, niemals zugegeben hätte.
Das Wasser war kalt.
Kälter, als er gedacht hatte.
Moment. Hatte er damit gerechnet, im Wasser zu landen?
Nun, vielleicht. Vielleicht in irgendeinem verborgenen Raum seines Bewusstseins, in dem die wichtigeren Entscheidungen ohne ihn gefällt wurden.
Er ging unter, kam wieder hoch, rang nach Luft und fand sich in einem Wirrwarr aus Strudeln.
Immerhin, dachte er. Immerhin fließt dieser Fluss nicht unterirdisch. Es gibt Licht, und es gibt ein Ufer, das man sehen kann. Dies ist gar nichts.
Dies ist die Luxusausgabe von etwas, das wir schon lange überstanden haben.
Er wollte lachen, doch er bekam Wasser in den Mund und hustete und spuckte stattdessen, was äußerst unschicklich ist für einen Thronfolger auf seinem Weg zum Thron, aber seine Lungen geboten ihm es, ohne Widerrede zu dulden.
Die Strudel waren stark. Stärker, das musste er zugeben, als die in dem Fluss unter der Erde.
Sie nahmen ihn in ihre Arme und drückten ihn unter Wasser, zogen ihn wieder hoch, wirbelten ihn herum und sangen von vergangenen Zeiten, in denen sie aufblasbare Boote auf ihren nassen Scheiteln balanciert hatten. Zeiten, in denen sie kein Feind gewesen waren, sondern eine Attraktion, eine seitenfüllende Beschreibung in englischen Fremdenführern, eine Angelegenheit, auf die das Land stolz war und die sich leicht in Dollar umsetzen ließ: White water rafting in Nepal, so close to nature...
Jumar kämpfte verbissen darum, oben zu bleiben.
Felsen tauchten in seinem Blickfeld auf, brachen die Oberfläche des Flusses, drohten ihm mit ihren harten Konturen. Er ließ sich von den Strudeln um die Felsen herumtragen, doch es war nicht einfach, und seine Arme begannen zu schmerzen. Überhaupt schmerzte sein ganzer Körper, und er betete, dass ihn das letzte bisschen Kraft nicht verließ. Dies war etwas anderes als die geregelten Bahnen, die er im königlichen Pool geschwommen war, in widerstandslosem, blauem, gechlortem Wasser. Dieses Wasser hatte einen eigenen Willen, und es kümmerte sich wenig darum, ob das, was es untertauchte, Baumstamm war, Bettler oder Kronprinz.
Wie die Blutegel hatte das Wasser gewisse kommunistische Züge: Der nasse Tod in seinen Fängen gehörte allen, so wie das Leben, das es denen wiedergab, die ihm entrannen.
Es konnte sich lange, lange nicht entscheiden, auf welcher Seite dieser Rechnung der allzu sichtbare Kronprinz Nepals auftauchen würde.
Aber er tauchte auf, schließlich, endlich, und jemand zog ihn aus dem Wasser, und Arme zerrten an ihm, um die ungewöhnliche
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