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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ihn an.
    Er nickte. »Christopher hatte recht. Das ist die Lösung. Wir müssen die Wacholdersträucher wiederfinden. Wir müssen irgendwelche Wacholdersträucher finden. Wir brauchen mehr Holz.«
    »Wenn wir weiter hinabkommen, kann ich euch zeigen, wo welcher wächst«, sagte Niya.
    »Aber wozu um alles in der Welt brauchst du ausgerechnet das Holz von Wacholder?«, fragte Arne.
    Jumar lächelte schlau. Es war immer noch seltsam, ihn dabei wirklich zu sehen, anstatt nur den Anflug eines Lächelns in seinen Worten zu hören.
    »Ohne Wacholder wärst du nicht hier«, sagte er. »Wacholderholz war es, womit Christopher den Drachen in die Spinnennetze gelockt hat. Sein Harz brennt bunt. Die Flamme lockt die Drachen an«, erklärte er.
    Erwartungsvolles Schweigen hüllte die kleine Gruppe am Feuer ein. Die Flammen schlugen knisternd in die Höhe, wacholderfrei und beruhigend wenig farbenfroh. Einzelne Funken stoben in den Himmel.
    »Ich hatte einen Traum«, fuhr Jumar schließlich fort, »einen Tagtraum, gerade heute, als wir den Berg hinabstiegen. Meine Beine stiegen, aber mein Kopf träumte. Er träumte, ich sähe die Stadt von oben. Die Straßen waren voll von Kämpfern, sie füllten die Stadt aus wie Ameisen einen Bau. Ich hörte Schreie aus den Gassen, Schüsse, Sirenen. Ich sah die Hunde fliehen und die Tauben auffliegen. Ich sah die Augen der Menschen hinter ihren Fenstern und ihre Angst. Und ich sah den Palast. Er war dunkel vor Soldaten. Die Panzer auf dem Durbar Square waren bereit zu feuern. Und da verstand ich, dass ich niemals in den Palast hineinkommen werde. Nicht jetzt, wo ich sichtbar bin. Nicht einmal mit dem Siegelring an meiner Hand. Niemand wird Zeit haben, auf etwas zu achten wie einen Siegelring. Ich bin sichtbar geworden, aber die Tore des Palastes sind nun verschlossen für mich. Die Macht des Königs, der verschlossene Raum, die Truhe – das alles ist unerreichbar geworden.«
    Er sah in die Runde.
    Und dann sagte er: »Wir sind nur zu viert. Wir können nichts ausrichten. Aber ich weiß, wer etwas ausrichten kann. Wir locken die Drachen in die Stadt. So wie Christopher den Drachen gelockt hat.«
    »Du bist wahnsinnig«, sagte Christopher.
    »Was soll das nützen?«, meinte Niya. »Und – woher kriegst du genügend Spinnennetze?«
    Jumar schüttelte langsam den Kopf. »Dies ist kein Witz«, fuhr er fort. »Es ist die einzige logische Konsequenz. Wir locken sie an dem Tag, an dem das Chaos die Straßen ergreift. An dem Tag, an dem die Maos die Stadt stürmen und Kartan seine Männer gegen sie losschickt. An dem Tag, von dem ich geträumt habe. Die Schatten der Drachen werden die Männer allesamt in Bronze verwandeln, Soldaten, Aufständische ... jeden, egal, auf welcher Seite er kämpft. Und wenn alle Soldaten verwandelt sind – wenn der Palast nur noch von Bronzestatuen bewacht wird wie von einer Armee aus Zinn –, dann wird mich niemand länger daran hindern, ihn zu betreten. Dann kann ich mit meinem Vater sprechen. Und dann, endlich, wird er mir die Macht übergeben. Die Macht, mit der wir die Drachen besiegen können.«
    Sie schwiegen lange.
    Die Dunkelheit jenseits des Feuers war dichter geworden. In dieser Dunkelheit lauerte die Zukunft.
    »Es ist ein Märchen«, sagte Niya schließlich, »eines der Märchen, die man sich am Feuer erzählt. Nichts mehr als das. Aber ich bewundere deinen Mut, an die Märchen zu glauben.«
    »Nein, es ist nicht mehr als ein Märchen«, sagte Jumar. »Aber auch nicht weniger.«
    »Ich weiß nicht –«, begann Christopher.
    Und Arne sagte: »Wir müssen es versuchen. Es ist unsere einzige Chance.«
    Später saßen sie da und sahen zu den Sternen empor, und Niya sang ihre Lieder für sie, auch ohne die Gitarre.
    Mein Herz ist gierig nach Träumen, sang sie, Träumen im Land meiner Väter...
    Und Arne, der so etwas konnte, lauschte eine Weile und stimmte schließlich in seinem Bass mit ein. Später, viel später, würde sich Christopher daran erinnern, wie sie zu zweit gesungen hatten ... Es war eine so schöne Nacht, eine so schöne Nacht zwischen all dem Schrecklichen der letzten Zeit... und er sah etwas in Jumars Augen, das sich in denen von Niya spiegelte. Etwas, das ihn leise bat zu gehen. Es tat weh, doch die Nacht hatte recht. Er war es nicht, der zu Niya gehörte. Eine Welt aus Blutgeruch und schweren Stiefeln lag zwischen ihnen, eine Welt, in der sie sich niemals ganz treffen konnten. Als das Feuer an jenem Abend heruntergebrannt war, stand er auf

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