Drachen der Finsternis
flüsterte er. »Wer sind sie?«
Tarmin zog den Vorhang wieder vor das Fenster.
»Unser ältester Sohn«, sagte er, »war der Erste. Er war Polizist, im Tal. Die Maos haben auf ihn geschossen, und seine Freunde haben ihn uns zurückgebracht. Ich ruderte ihn über den Fluss. Ich dachte, er wäre tot. Aber meine Frau Deepa hat gesagt: Sieh doch, Tarmin, er schläft nur. So haben wir ihn auf unser Bett gelegt und sind ins andere Zimmer umgezogen, zum Schlafen, um ihn nicht zu stören. Als Nächster kam der jüngste Sohn. Wir wussten, dass er käme, denn auch er war bei der Polizei. Wollte immer so sein wie sein ältester Bruder. Alle Polizisten an den Straßenkontrollen haben Angst – zu viel Angst, um nachts zu schlafen. Deshalb, hat Deepa gesagt, ist auch er eingeschlafen. Sie waren einfach zu müde, unsere Söhne. Kaum zwei Tage später kam der dritte. Der war selbst bei den Aufständischen gewesen. Wir erfuhren es erst an dem Tag, an dem sie ihn ebenfalls in mein Boot legten. Da schlief er schon. Auch die Aufständischen haben zu viel Angst zum Schlafen, wenn sie in den Bergen liegen ... alle haben sie die gleiche Angst.
Das ist das Böse, vor dem sie Angst haben, hat Deepa gesagt. Wenn das Böse nicht mehr da ist, werden sie wieder aufwachen. Aber wer kann das Böse fangen und töten? Weder die Maos noch die Soldaten noch die Polizisten. Jemand anderer muss es tun. Ich habe geträumt, dass das Böse durchs Kali-Gandaki-Tal kommen wird. Jeder muss durch dieses Tal, auch das Böse. Und so habe ich begonnen ...«
Er senkte seine Stimme, flüsterte: »Ich habe begonnen, eine Falle zu bauen. Eine Falle für das Böse. Zwei Wochen und dreizehn Tage habe ich daran gesessen. Und ich musste sie an Land bauen, in der Trockenheit und der Hitze. Denn sie wurde schwer, schwer wie die Aufgabe, die ich bewältigen wollte, zu schwer für das Boot. Vor vier Tagen habe ich ihre Einzelteile mit unserem letzten Maultier und dem Karren das rechte Tal entlanggeschleift. Das, wo das Böse entlangkommen muss, wenn es nach Kathmandu will. Dort habe ich meine Falle aufgestellt. Es war mühsam und schwierig. Ich hatte einen Flaschenzug gebaut, um ihre Teile zu heben ... ja, was das Böse fangen soll, wiegt zu viel für einen einzigen Menschen. Aber ich bin nicht dumm. Das Böse will töten, und ich habe es mit Leben geködert... schscht! Es ist ein Geheimnis! Ihr werdet es doch nicht verraten?«
Die vier Wanderer schüttelten benommen die Köpfe. In ihnen wirbelten zu viele Gefühle durcheinander, und selbst Jumar hatte seine Eile einen Moment lang vergessen und stand starr.
»Auf dem Rückweg kamen mir zuerst die Aufständischen entgegen. Später, im Dunkeln, kamen Kartans Truppen. Ich versteckte mich hinter Felsen am Rande des Tales, zweimal. Als ich hierher zurückkam, fand ich nur noch das Rot überall und die Reste der Kühe. Auf der Schwelle lag der Hund und drinnen, auf dem Boden, meine Frau Deepa und die kleine Anita. Sie schliefen ... schliefen so fest ... bald, wenn das Böse in die Falle gegangen ist, werden sie aufwachen. Dann beginnt die neue Zeit. Ich werde den Tee aufsetzen ...«
»Nicht – nicht nötig, danke«, unterbrach Arne den Redeschwall des alten Tarmin. »Wir – wir müssen wirklich weiter. Es ist also das rechte Tal, das wir nehmen müssen? Führt das rechte Tal auch zum Flugplatz?«
Tarmin legte den Kopf schief, schien zu überlegen – nickte schließlich.
»Ja«, sagte er. »Ich werde euch mit meinem Boot zum Ufer zurückbringen. Seht euch vor: Vielleicht kommt das Böse schon diese Nacht durchs Tal.«
Als sie kurz darauf das Boot des alten Tarmin verließen, der vielleicht verrückt war, atmeten sie alle auf. Christopher jedoch dachte, dass das Böse schon da gewesen war. Und dass es nicht in Tarmins Falle gegangen war – wie auch immer sie aussah.
Vielköpfig, marschierfüßig, schwarzläufern war es an Tarmin vorübergezogen.
Vielleicht war es schon in Kathmandu.
Tarmin behielt recht: Nach der nächsten größeren Biegung des rechten Tales verschwand das blaue Wasser des Flusses so überraschend, wie es aufgetaucht war. Rauschend und gurgelnd versank der Kali Gandaki in der Erde, versickerte in Dutzenden einzelner Wasseradern, als ertränke er selbst im überwältigenden Staub der wüsten Trockenheit. Und wenn er unterirdisch weiterfloss, so produzierte sein verborgenes Leben kein Leben über der Erde: Nirgends wuchs es, nirgends grünte es, nirgends war auch nur die winzigste Chance für einen
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