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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hatte das gesagt. Und es stimmte, denn in diesem Moment war keiner wichtiger, keiner nebensächlicher. Keiner ging voran, keiner hinterher. Er brauchte Arne, und Arne brauchte ihn. Und sie beide wurden von jemand anderem gebraucht, keiner mehr, keiner weniger.
    Sie waren Hälften eines vierarmigen Wesens, das keuchend und stöhnend im Staub einer Nacht, irgendwo in einem verlassenen Tal, eine Eisenplatte hob.
    Es ging nicht darum, ob Christopher so stark war wie Arne. Es ging nicht darum, etwas zu beweisen.
    Und als er das dachte, ließ sich die Platte ein letztes, verzweifeltes Stück anheben – und plötzlich ging es leichter, und dann schlugen sie das Eisen zurück wie den Deckel eines Buches. Durch Christopher blitzte die Angst. Ein Teil von ihm wollte rufen – Namen rufen, sich nach vorne beugen, in die Tiefe spähen ... Ein anderer Teil wollte die Augen schließen; niemals erfahren, was dort unter dem Eisen gewartet hatte. Doch er war zu erschöpft für beides. Alles, was er tun konnte, war, nach Luft zu ringen.
    Später behielt er zwei Bilder im Gedächtnis, die ihn – wie so vieles auf dieser Reise – nicht mehr verlassen sollten: Das erste war Arnes Lächeln unter jener Staubschicht. In jenem Moment, in dem er einfach nur noch ein Bruder war, kein älterer, stärkerer, wichtigerer Bruder mehr.
    Das zweite Bild war ein anderes, größeres: Über dem Kali-Gandaki-Tal rötet der Morgen den Himmel, und das erste Licht fällt in einen annähernd rechteckigen, schwarzen Schacht. Auf dem Boden dieses Schachtes sieht man zwei Figuren. Jetzt! Jetzt erheben sie sich, erst die eine, dann die andere. Der Schacht ist tief, zu tief, um alleine daraus emporzuklettern. Arme greifen hinab und ziehen andere Arme herauf. Von hier oben, von wo aus wir die Szene betrachten, ist kein Ton zu hören.
    Die Sonne balanciert auf der Schneide der östlichen Bergkette.
    Ihr erstes, eidotternes Licht wirft die Schatten von vier Wanderern in den Staub. Und dann beginnen sich die Schatten zu bewegen, dem flusslosen Flusslauf zu folgen – in Richtung Kathmandu.
    Weiter nördlich, flussaufwärts, außerhalb von Christophers Erinnerung, strich ein Drache über den Kali Gandaki. Die Morgensonne flimmerte auf seinen smaragdenen Flügeln.
    Der Drache war hungrig.
    Mitten im Fluss entdeckte er ein grünes, mandelförmiges Auge mit einer grauen, steinernen Pupille. Der starke Duft von Räucherstäbchen stieg von dort auf. Der Drache atmete ihn ein, verwundert ließ er sich in einer Spirale von vollendeter Schönheit tiefer sinken und sah, dass das Auge eine Insel war.
    Eine Insel voller Farben.
    Er strich suchend darüber: Mit ihm strich sein Schatten ... und schließlich ließ er sich auf einer Wiese nieder, auf der vielleicht früher einmal Kühe geweidet hatten. Von dort aus begann er, das Grün der Insel zu vernichten.
    Er brauchte drei Stunden und sechzehn Minuten dazu.
    Dann entfaltete er seine Schwingen wieder, deren Ton jetzt von Smaragd ein wenig ins Saftgrüne umgeschlagen war, und flog durch das Tal davon.
    Er ließ eine farblose Insel zurück, ein blindes Auge im Fluss, das weder Böse noch Gut erkennen konnte. An der Spitze der Insel stand die bronzene Statue eines alten Mannes, der aufs Wasser hinaussah, sein Kopf bedeckt von einer Kappe, die einem zu kleinen Teewärmer glich.

Arne in der Luft
    Als sie von ferne einen Fetzen Grün sahen, atmete Christopher auf.
    Man wusste nicht, zu was dieses Tal noch fähig war.
    Sie hatten gegen Mittag versucht, im Schatten den Schlaf der Nacht nachzuholen, doch keiner von ihnen hatte es geschafft, lange still zu liegen – wie die Soldaten im Unterholz, wie die Polizisten an den Kontrollpunkten, wie die Aufständischen, die in den Bergen lagen, hatten sie zu viel Angst, um ruhigen Schlaf zu finden – eine unbestimmte, ungerichtete, nervöse Angst. Und ein offenes, inselförmiges Auge wachte in ihren Bewusstsein, ohne zu blinzeln.
    Der Abend kroch bereits von den Bergen hinunter, und die Ränder des Flussbettes warfen tiefe, trügerische Schatten, als fließe dort wieder Wasser. Sie hielten sich nahe den Schatten am Rand, um ja nicht den Pfad zu verpassen, der sie aus dem trockenen Fluss hinausführte, und als sie schließlich sein Ufer erklommen und über eine Mauer in der Nähe die Blätter eines dürren Apfelbaumes ragten, kam es Christopher vor, als wäre dieser Apfelbaum das Schönste, was er je gesehen hatte: Sie hatten das Kali-Gandaki-Tal und die Auswüchse seines Wahnsinns

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