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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ja, dachte Christopher. Warum hatte er nicht rechtzeitig den richtigen Gedanken in seinem Kopf gefunden? Den Gedanken an Jumars Eigenschaft, in Fallen zu tappen – egal, ob sie für ihn bestimmt waren oder nicht...
    »Das Böse muss zerstören, alles Leben zerstören«, flüsterte er. »Ich habe es mit Leben geködert...«
    »Der Oleander«, sagte Arne. »Tarmin hat ihn gepflanzt.«
    Christopher nickte, und sein Kopf fühlte sich mit einem Mal so schwer an, als wäre er selbst aus Eisen.
    »Arne«, flüsterte er, »Arne – wie tief sind sie gefallen? Tief ... tief genug? Das Eisen ... und das Gewicht all dieser Steine ... hat sie doch nicht... zerquetscht?«
    Es war so still, so still im Tal.
    Erinnerung an eine Autobahn: ein kleiner Vogel, der gegen die Windschutzscheibe prallte, ihr Vater am Steuer. Christopher, gerade sechs Jahre alt, saß auf der Rückbank, neben ihm Arne.
    »Arne«, flüsterte er, »Arne – er ist doch nicht...?«
    Und Arne schüttelte den Kopf. »Er ist weitergeflogen, weißt du, hier auf meiner Fensterseite, wo du es nicht sehen konntest.«
    Und alles war gut.
    Aber jetzt, jetzt war alles anders. Christopher war nicht länger sechs Jahre alt.
    Arne drehte sich langsam zu ihm um, und sein Gesicht wirkte seltsam bleich im letzten Licht des Abends. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Christopher, ich weiß es nicht. Wir müssen nachsehen. Wir müssen die Steine beiseiteräumen.«
    Christopher nickte. Doch ihm war nicht nach Nicken zumute. Mussten sie wirklich? Wollte er wissen, was unter der Eisenplatte lag? Aber wenn sie leben, flüsterte es in seinem Kopf, wenn sie leben und darauf warten, dass wir sie befreien ...
    Und so begannen sie im Dunkel der jungen Nacht, mit bloßen Händen Geröll fortzuschaufeln, hektisch, verzweifelt – und die Nacht wuchs mit dem Mondschein, wurde älter, weiser – und im Tal des Kali Gandaki saßen noch immer zwei Gestalten auf den Knien und gruben sich durch einen Berg von Staub und Steinen. Sie gruben, bis ihre Finger bluteten, und sie merkten es nicht einmal. Christophers Rücken schmerzte, seine Knie taten weh, und die Müdigkeit sang in seinen Ohren. Aber jetzt war keine Zeit für Müdigkeit.
    Mein Herz ist gierig nach Träumen, sang die Müdigkeit, Träumen im Land meiner Väter.
    Mein Herz ist gierig nach Träumen, doch sie sagen: Das Träumen kommt später.
    Zuerst kommt der Tag, zuerst kommt das Licht,
    wer die Augen verschließt, dem glaubt man nicht...
    Aber käme der Tag jemals? Und wenn er käme: Käme das Licht? Käme es für Jumar und Niya?
    Würden sie es je wiedersehen? Er verbot sich mit der Müdigkeit auch jeden Gedanken, der weiterführte. Nur ein Gedanke war erlaubt: Das Geröll musste fort, die Eisenplatte musste freigeräumt werden. Und schließlich, endlich, als der Mond schon verblasste, hatten sie es geschafft:
    Vor ihnen glänzte unter einer letzten Schicht Staub hartes, kaltes Metall.
    Christopher ließ sich nach hinten fallen und blieb einfach so liegen. Er sah die Sterne an und dachte nichts.
    Eine Minute lang einfach nichts.
    »Christopher«, begann Arne nach der Minute. »Die Platte – erinnerst du dich, was Tarmin gesagt hat? Sie ist zu schwer für einen allein. Dieser Tarmin war doch ein schlauer Hund mit seinem Flaschenzug.«
    Er machte eine Pause. Dann sagte er leise: »Wir können es nur zusammen.«
    Da rappelte Christopher sich hoch, suchte eine Stelle, an der er unter das Metall greifen konnte, und packte zu.
    »Eins – zwei –«, murmelte Arne. Bei drei begannen sie zu heben. Aber es geschah nichts. Absolut nichts. Diese Falle war nicht dazu gemacht, sie jemals wieder zu öffnen. Es war eine endgültige Falle. Eine Falle, aus der das Böse nie wieder entkommen sollte.
    Hätte sie nur das Richtige gefangen!
    »Noch einmal«, sagte Arne. »Eins – zwei –«
    Diesmal ruckte die Eisenplatte ein wenig, ein winziges bisschen nur – genug, um die Hoffnung in ihnen wachzurütteln. Und ein drittes Mal: Diesmal zählte Christopher. »Eins – zwei –«
    Sie zogen und zerrten, stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Gewicht des Eisens ... Christopher spürte, wie sich die Muskeln in seinem Körper anspannten, bis es schien, als müssten sie zerreißen. Sein Atem ging in kurzen, unregelmäßigen Stößen wie der eines Fiebernden. Zentimeter um Zentimeter hob sich die Platte. Neben sich hörte er Arne keuchen, sah sein Lächeln: staubbedeckt, schwitzend, dreckig.
    Wir können es nur zusammen, dachte Christopher. Arne

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