Drachen der Finsternis
seiner Teile. Niemand weiß, wohin. Er versickert einfach in der Erde. Vielleicht gefällt ihm das Tal auch nicht.«
Jumar hatte seinen Teller bereits leer gegessen und begann nun, ungeduldig mit den Fingerknöcheln der linken Hand auf der Tischplatte zu trommeln.
»Wir danken Euch für das Essen«, sagte er steif. »Aber sagt uns endlich – welcher von beiden Wegen ist es?« Es war das dritte Mal, dass er fragte, und Christopher spürte, dass er am liebsten aufgesprungen und davongestürmt wäre, um es selbst herauszufinden.
»Wir hatten auch Kühe«, sagte der Alte, als hätte er ihn nicht gehört. »Auf dem kleinen Stück Wiese. Zwei. Die haben sie uns nicht gelassen.«
Und Christopher dachte wieder an sie und dass er das letzte Mahl des alten Tarmin aß, und in ihm breitete sich ein schaler Geschmack aus, ein Geschmack von dunklen Ahnungen. Ein schaler Geschmack vom Morgen und vom Übermorgen und von seiner Angst davor. Er zwang sich, ihn hinunterzuschlucken.
Er suchte Arnes blaue Augen, das Feuer in Niyas entschlossenem Blick. Arne lächelte. Und in Niyas Augen hatte der Fluss das Feuer nicht gelöscht.
»Ich werde noch einen Tee machen«, sagte Tarmin. »Will eben Wasser holen. Bleibt ihr nur sitzen. Zu einem letzten Essen gehört ein Tee.«
Er schlüpfte gebückt durch den Vorhang nach draußen, und der bunte Stoff streifte seine Kappe und raschelte leise. Jumar stand auf. »Wir kommen hier nie mehr los«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, der Alte weiß gar nicht, welchen Weg wir nehmen müssen. Er braucht nur jemanden zum Reden. Lasst uns einfach gehen.«
Niya nickte und zeigte stumm in die Schatten im hinteren Teil des Raumes. Dort zeichnete sich ein zweiter Vorhang ab. In der Wand daneben steckten mehr Räucherstäbchen als irgendwo sonst.
»Vielleicht kommen wir dort hinaus«, flüsterte Niya. »Dann brauchen wir nicht mit ihm zu diskutieren.«
Sie hob eine Ecke des Vorhangs, um hindurchzuschlüpfen, und Jumar, Arne und Christopher folgten leise. Das Essen und die duftschweren Schwaden der Räucherstäbchen hatten Christopher bleierne Müdigkeit in die Knochen gegossen. Seine Gedanken flossen wie zäher Honig, und so stand er eine Weile da, ohne zu begreifen.
Die verhängte Öffnung in der Wand führte nicht nach draußen in den Garten.
Dahinter lag ein zweiter, noch dunklerer Raum.
Er besaß ein winziges Fenster, verhängt mit einem dicht gewebten Stück Stoff. Hier gab es unter dem Duft der Räucherstäbchen noch einen anderen Geruch, einen Geruch, der dem schalen Geschmack in Christophers Kopf ähnelte. Er schnupperte. Es war der süßlich-strenge Geruch von Verwesung.
»Ein ... Schlafzimmer«, flüsterte Jumar. Niya nickte. Ein breites Doppelbett nahm den größten Teil des Raumes ein. Und auf diesem Bett lagen Umrisse, dunkel und unkenntlich in der Abwesenheit des Tages: stille Umrisse. Die Umrisse von Schlafenden.
Christopher hörte Schritte, und Jumar trat hinter ihn. Dann noch mehr Schritte: alte, flinke Schritte.
»Psst!«, machte Tarmin. »Weckt sie nicht! Sie schlafen! Sie schlafen so fest!«
»Was –?«, flüsterte Jumar.
»Deepa«, wisperte Tarmin, »ist als Letzte eingeschlafen. Gestern Abend, kurz nachdem ich zurückgekehrt bin. Da waren sie da gewesen. Sie haben alles mitgenommen und auch die Kühe geschlachtet. Überall war so viel Rot – ich habe lange gebraucht, um sauber zu machen. Da wusste ich, dass es so weit war. Dass ich gerade rechtzeitig den Flusslauf hinuntergegangen war.«
Christopher hielt es nicht mehr aus. Er streckte die Hand aus, zog den schweren Stoff des Vorhangs beiseite, und ein Strahl Licht fand seinen Weg durch das winzige Fenster.
Er hörte Jumar nach Luft schnappen.
Tarmin legte den Finger an die Lippen, eindringlich. »Noch ist keine Zeit zum Aufwachen!«
Christophers Knie fühlten sich etwas weich an. Er stützte sich mit einer Hand gegen die kalte Wand aus groben Steinblöcken.
Auf dem großen Doppelbett lagen unter einer bestickten Decke nebeneinander fünf Menschen und ein Hund – dicht gedrängt, als suchten sie Wärme und Schutz beieinander. Doch jede Wärme kam zu spät für sie. Keiner von ihnen würde jemals wieder von diesem Bett aufstehen. Er zählte drei junge Männer, ein kleines Mädchen und eine alte Frau. Zu ihren Füßen war ein toter Hund ausgestreckt. Die Leichen schienen unterschiedlich alt zu sein, und Christopher war dankbar für das Betttuch, das ihm weitere Details ersparte.
»Was – was ist geschehen?«,
Weitere Kostenlose Bücher