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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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guter Schüler wie er, hatten sie gesagt, bräuchte keine Tests zu schreiben. Er hatte auch ohne Prüfungen gelernt.
    Sicher – vielleicht war es eine Prüfung gewesen, die Höhle des Drachen zu betreten. Ein ganz eigene Art Prüfung. Aber damals hatte niemand ihm zugesehen.
    Nun kam es ihm vor, als beobachtete die Stadt ihn mit tausend Augen, um zu sehen, was aus ihrem Sohn geworden war. Mit einem Mal fühlte er sich ohne Christopher und Niya allein und ausgeliefert – seinem eigenen Plan ausgeliefert, seinem eigenen Mut.
    In jedem Haus, hinter jeder Tür fürchtete er, man werde ihn fortjagen, ihn auslachen, ihm nicht zuhören. Doch sie hörten ihm zu. Sie waren freundlich. Sie luden ihn zum Essen ein, drängten ihm hier eine Tasse Tee auf und dort eine Handvoll Reis, und er wunderte sich jedes Mal.
    Er sagte ihnen nicht, wer er war. Einst hatte er es für wichtig gehalten. Nun war es ganz und gar bedeutungslos geworden.
    Die Holzstückchen gingen von Hand zu Hand, wurden begutachtet, betastet, beschnuppert...
    Wie es duftete, das Holz, das dieser seltsame, schüchterne Junge ihnen brachte! Solch einen Duft hatten sie noch nie gerochen. Es musste etwas Besonderes damit auf sich haben – und er erklärte es ihnen, zögernd, fast mussten sie ihn darum bitten: Dies war Holz, das die Geschichte der Stadt ändern würde. Ihre Geschichte. Wunderholz. Drachenholz.
    Und dann? Was sollte dann geschehen? Alles sollte sich zum Guten wenden? Soldaten aus Bronze? Stumme, reglose Kämpfer? Nutzlose Gewehre? Stille Kugeln? Panzer ohne Fahrer? Ein Palast – ohne König? Aber wie war das möglich?
    »Du sprichst merkwürdige Worte«, sagten sie dem schüchternen Jungen. »Worte, die schwer zu glauben sind. Aber wir werden an dich denken, wenn die Dunkelheit kommt, und wenn die große Glocke erklingt, werden wir die Fackeln in unseren Fenstern anzünden. Wir werden lauschen und beobachten, hinter verriegelten Türen – sehen, was geschieht. Ob etwas geschieht.« Sie klopften ihm auf die Schulter und wollten ihn zum Bleiben nötigen, doch er sagte, er müsste weiter, weiter, weiter ...
    Arne gab den Menschen das Holz mit einem Lächeln.
    Er brauchte nicht viel zu sagen. Die Sprache, die er mühsam gelernt hatte, gab ihm nicht genügend Worte, um zu erklären, zu erzählen, zu überzeugen: Sein Lächeln musste genügen. Und es genügte, das magische, weite Lächeln auf seinem fremdländischen Gesicht, das Strahlen seiner hellen Augen, es verzauberte sie auch ohne Worte.
    Sie begriffen natürlich, was er von ihnen wollte. Und sie versprachen, es zu tun. Es musste etwas Gutes sein, dieses duftende Holz, etwas, das eine Wirkung hatte, obgleich noch abzuwarten war, welche. Sie würden es für den jungen Mann mit dem blonden Haar und dem strahlenden Lächeln entzünden, sobald die Abendluft den ersten Ton der Glocke durch die Stadt trug, und dann würden sie warten ...
    Niya war erschöpft. Der Abend nahte mit großen Schritten. Sie hatte so viele Häuser betreten, zu so vielen Menschen gesprochen – sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Zum ersten Mal seit Langem verlangte ihr Körper nach Ruhe: nach einem Platz im kühlen Schatten, nach Stille, absoluter, vollkommener Stille.
    Es war, als wäre sie leer, als wären alle Worte und alle Gesten aus ihr hinausgeflossen und hätten nichts zurückgelassen als einen großen, kahlen Raum, in dem sie sich niederlassen und ein wenig ausruhen wollte. Ein wenig nur –
    Sie hatte das letzte Stück Holz fortgegeben, die letzte Tür schloss sich hinter ihr, und sie ging eine letzte Gasse hinab, die aussah wie alle anderen Gassen: eng, überspannt von Wäsche, Abfall in den Ecken; Musik aus einem offenen Fenster; dösende Hunde.
    Als sie am Ende jener Gasse ankam, stellte sich ihr jemand in den Weg.
    Sie wusste nicht, woher er gekommen war – er musste gewartet haben, irgendwo in den Schatten. Ihre Aufmerksamkeit hatte nachgelassen.
    Er packte sie hart am Arm, und der Schreck des Unerwarteten durchlief sie wie ein elektrischer Schlag. Dann sah sie ihm ins Gesicht, erkannte ihn: Es war einer der Trommler, mit denen sie in den Bergen unterwegs gewesen waren. Einer derer, die ihre brennenden Reden begleitet hatten.
    »Niya –«, sagte er. Da war ein Zögern in seiner Stimme, ein Bedauern. Und womöglich wäre es ihr gelungen, sich loszureißen. Doch nun standen zwei andere hinter ihm, zwei, die sie nicht kannte, und dann trat ein Dritter dazu, den sie im Basislager gesehen hatte. Sie blickte von

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