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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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die Stadt.
    Sie kamen durch einen der Abwasserkanäle wie die Ratten, und eine, mit kleinen Augen und nervös zuckender Nasenspitze, begegnete ihnen, während sie geduckt durch den Schlamm und den Unrat wateten. Sie blickte ihnen nach, die Schnurrhaare zitternd, misstrauisch. Doch in ihren Augen glomm das Wissen, ehe sie in einem Loch an der Seitenwand des Kanals verschwand.
    »Wo entzünden wir das Holz, und wann?«, fragte Christopher flüsternd.
    Doch Jumar schüttelte den Kopf. »Wir entzünden es gar nicht«, antwortete er. »Wenn wir es auf einen großen Haufen legen und tatsächlich schaffen, es anzuzünden, ohne dass uns jemand daran hindert, wird es eine hohe Flamme schlagen, doch die Flamme wird nur an einem Punkt brennen. Es wird nicht reichen. Wir wollen nicht einen Drachen anlocken, wir brauchen sie alle, jeden einzelnen. Das, was sie leuchten sehen in der Ferne, muss so groß aussehen wie möglich: Die ganze Stadt muss glühen und Funken sprühen, und wenn es nur für Minuten ist.«
    Christopher sah ihn fragend an.
    »Wir verteilen die Hölzer«, erklärte Jumar.
    »Verteilen? An wen?«
    »An die Bewohner der Stadt. Wenn die Kämpfer in den Straßen sind, werden in den Fenstern Kathmandus Fackeln glühen, Tausende von Fackeln, die bunte Funken sprühen. Die Stadt wird ein Teppich aus Licht und Farben sein. Ein Teppich, der bis zu den Bergen glüht und dem keiner der Drachen widerstehen kann.«
    »Und wie willst du die Leute dazu bringen, die Äste anzuzünden? Ich meine: Für sie wird es keinen Sinn machen –«
    »Doch«, sagte Jumar. »Denn wir werden ihnen erklären, was geschieht.«
    Sie kauerten eine Weile schweigend im Abwasserkanal. »Du glaubst doch nicht«, sagte Christopher schließlich, »dass die Leute freiwillig Fackeln entzünden, von denen sie wissen, dass sie die Farbdrachen anlocken?«
    »Es ist unsere einzige Chance«, antwortete Jumar.
    »Er hat recht«, sagt Niya. »Es geht darum, dass alle mithelfen. Ohne das Volk kann sich nichts ändern.« Und sie stieß Jumar leicht in die Seite und lachte leise. »In seinem Herzen ist der Thronfolger Nepals doch ein guter Kommunist.«
    Sie zerbrachen die Wacholderäste in so viele kleine Stücke, wie sie konnten, und jeder von ihnen stopfte sich seine Taschen voll damit. Es würde nicht für alle Häuser der Stadt reichen, natürlich nicht, aber in jeder Straße ein Licht musste genügen.
    Jumars Worte wiederholten sich in Christophers Kopf wie ein unendliches Echo: Es ist unsere einzige Chance, es ist unsere einzige Chance, unsere einzige Chance ...
    »Heute werden wir die vier Menschen in der Stadt sein, die am härtesten arbeiten«, sagte Jumar. »Bis zum Abend müssen wir so viele Leute überzeugt haben, wie wir nur können. Sagt ihnen, sie sollen die Fackeln entzünden, wenn sie das Läuten der Glocke vom Durbar Square her hören, der Glocke vom größten der Tempel dort. Ich habe sie oft gehört, vom Palast aus. Ihr Läuten wird unser Zeichen sein, damit alle Lichter gleichzeitig strahlen. Wenn die Kämpfe beginnen, müssen wir alle vier oben auf dem größten Tempel sein. Bis dahin trennen wir uns, wir werden ausschwärmen wie die Ratten aus diesem Kanal, und dort treffen wir uns wieder.«
    Er schwieg und sah sie der Reihe nach an.
    Und sie alle nickten.
    Aber nur drei von ihnen würden da sein, und er wusste es nicht; er wusste es nicht.
    Es ist schwer, sich in einem Abwasserkanal zu umarmen, wenn die Decke niedrig ist und der Boden voll Unrat und brackigem Wasser. Doch irgendwie gelang es ihnen.
    Christopher merkte, dass seine Hände zitterten, als er die von Jumar drückte, und Niya hielt ihn ein wenig zu lange fest für eine, die niemals Angst hat.
    »Verirrt euch nicht in den Gassen«, wisperte sie und lachte wieder. »Und vergesst nicht, dass es purer Kommunismus ist, was wir hier wahr machen!«
    Doch dann wurde sie mit einem Mal ernst.
    »Denkt daran«, sagte sie. »Die Maos wissen, dass wir Verräter sind. Der große T sorgt dafür, dass jeder die Gesichter von Verrätern kennt. Ihr erinnert euch an die Männer, die sie zurückgebracht haben, damals, in der geschmolzenen Stadt?«
    Sie nickten.
    »Wenn einer von uns ihnen im Chaos in die Hände fällt, heute Nacht«, fuhr Niya fort, »und es nicht möglich ist, ihn zu befreien – dann müssen die anderen ihn töten. Ich habe es schon einmal gesagt, aber ich sage es noch einmal: Der Tod ist besser als das, was sie mit Verrätern tun. Ich habe es gesehen. Ich weiß es. Und das ist,

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