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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Vielleicht war Arne hier gewesen. Er wischte die plötzlich schweißnassen Hände an seinen Jeans ab und sah sich um. Vielleicht war Arne durch diese Tür gegangen. Vielleicht hatte er in diesem Haus übernachtet.
    »Lass uns fragen«, sagte er, »ob wir hier schlafen können. Es ... es wird schon dunkel, und es ist sicher besser, heute nicht mehr weiterzugehen ...«
    »Von mir aus«, sagte Jumar.
    In diesem Moment öffnete sich die Gartentür des grellblauen Gartenzauns, und hinter einer Hecke aus hohen Blumenstauden spähte eine Frau hervor, die ein Kind auf dem Arm trug.
    »Sprichst du immer mit dir selbst?«, fragte sie.
    »Oh, bisweilen«, antwortete Jumar, und Christopher sagte: »Selten«, und die Frau lächelte ihn unsicher an.
    »Was denn nun?«
    »Ich suche ein Zimmer für die Nacht«, erklärte Jumar, und Christopher begriff zu spät, dass er besser daran tat, den Mund zu bewegen, wenn sein unsichtbarer Begleiter es sich in den Kopf gesetzt hatte, etwas zu sagen.
    »Oh, freie Zimmer habe ich genügend«, antwortete die Frau und lachte. »Ich habe nur freie Zimmer. Es sind schon seit Langem immer weniger Touristen geworden, und seit ein paar Wochen kommen gar keine mehr. Man kann sich an einem Finger ausrechnen, weshalb. Also komm herein. Es ist nicht teuer.«
    »Haben wir überhaupt Geld?«, fragte Christopher flüsternd, während die Frau voran durch den Garten ging und dann eine wackelige, hölzerne Außentreppe hinaufstieg.
    »Keine Sorge«, flüsterte Jumar. Die Frau drehte sich um, runzelte die Stirn, sagte aber nichts, und Christopher räusperte sich ausführlich, so als hätte er das die ganze Zeit über getan, statt zu flüstern.
    »Die – äh – Bergluft«, sagte er. »Mein Hals.«
    Oben blieb die Frau auf einer Galerie stehen, an der Christopher sieben Zimmer zählte.
    Die Frau öffnete die Tür zum ersten, dessen Inventar aus zwei Betten und einem Fenster bestand. Er sah hinaus, und da lagen zu seinen Füßen vor dem Dorf die farblosen Felder, als wollten sie ihm nicht erlauben, sie auch nur für einen Moment zu vergessen.
    »Hast du den Drachen gesehen?«, fragte die Frau leise.
    Christopher nickte, und Jumar sagte: »Nein" und dann versuchte Christopher, ihn zu treten, aber er stieß sich nur den Fuß an der Bettkante. Die Frau bedachte ihn mit einem seltsamen Blick.
    »Es war das erste Mal, dass einer von ihnen hierhergekommen ist«, sagte sie. »Sie wagen sich weiter und weiter von ihren Gipfeln herunter. Ich habe ihn beobachtet, von hier oben aus. Er war schön, aber er hatte diese schrecklichen Augen – Augen, die alles zu verschlingen schienen, so dunkel und tief. Und der Reis, dessen Farbe er gefressen hat, wird niemanden satt machen, das kann man von überall hören. Es geht nicht gut mit diesem Land, es geht nicht gut. Es werden noch schrecklichere Dinge geschehen, ich habe so etwas im Blut.«
    Das Kind auf ihrem Arm war aufgewacht und begann zu quengeln.
    »Ja, du«, sagte die Frau zu ihm. »Du weißt noch nichts von den Dingen da draußen, was? Du hast es gut. Sie sagen, auf wen der Schatten der Drachen fällt, der wird zu Stein. Weißt du etwas darüber? Ist es wahr?«
    »Nein«, sagten Jumar und Christopher gleichzeitig. Und Christopher spürte, wie sich etwas in ihm zu einem Klumpen zusammenzog. Der Schatten der Drachen.
    Was wäre geschehen, wenn er den unsichtbaren Thronfolger nicht zurück ins Dunkel des Waldes gezogen hätte? Dann stünde Nepal, dachte er, nun wohl ohne einen Thronfolger da und mit nichts als einer hohlen Bronzestatue, unsichtbar oder nicht.
    »Eine Frau, zwei Dörfer weiter, die ist verwandelt worden. Sie hatte den schönsten Garten weit und breit, und eines Tages kam ein blauer Drache, um seine Farben zu fressen. Das war einer der ersten, die von den Bergen herunterkamen und in der Gegend gesehen wurden. Sie war dabei, die Ranken hochzubinden, da fiel der Schatten des Drachen auf sie, so erzählt man es. Vierzig Tage und vierzig Nächte lang war sie aus hohler Bronze, ohne Herz und ohne Seele. Sie haben die Statue auf die Felder hinausgebracht, weil sie ihnen unheimlich war. Dann ist der Drache wiedergekommen, um dort vor dem Dorf das Gelb der Maiskolben zu verschlingen. Und die Kinder wollen von Weitem gesehen haben, wie sein Flügel sie im Vorbeifliegen streifte. Als der Drache fort war, stand die Frau auf und ging ins Dorf zurück, zu ihrem farblosen Garten. Es heißt, die Berührung des Drachen hat sie zurückverwandelt. Seit jenem Tag, sagen sie,

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