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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sitzt sie in ihrem schwarz-weißen Garten und spricht mit niemandem mehr.«
    Die Frau seufzte. »Es gibt zu viele Gerüchte«, sagte sie, »und zu viele Lügen. Aber auch zu viel Wahrheit. Am gefährlichsten sind die Gerüchte, die einem Hoffnung machen, denn das sind jene, die einen mit der Enttäuschung der Wahrheit töten. Manche sagen, dass sich die Dinge bald ändern werden. Dass einer kommt, der sie ändert. Das ist so ein gefährliches Gerücht. Der König soll einen Sohn haben, von dem bisher niemand wusste. Ich frage dich: Wie kann das sein? Wie kann ein König einen Sohn haben, ohne dass das Volk davon weiß? Und selbst, wenn es wahr ist: Was soll er tun, jetzt, wo die Drachen selbst hierher kommen?«
    Da fand Christopher Jumars Fuß endlich und trat sehr, sehr fest darauf, damit Jumar den Mund hielt.
    Als die Sonne über den Blüten des Gartens unterging, saßen sie zusammen mit der Frau und ihren drei Kindern auf dem Boden in der Küche und aßen von großen Tellern Dhal Bhat. Christopher hatte gelesen, dass Dhal Bhat Reis mit Linsen war, aber nirgendwo hatte gestanden, wie es schmeckte, und das war ein Glück. Er war froh, dass Jumar neben ihm auf dem verblichenen Teppich saß, denn Jumar war wirklich hungrig, und so verschwand der Berg Reis nach und nach.
    Jumar erledigte auch das Reden. Vielleicht, dachte Christopher, wäre es gut, einen wie ihn in der Schule dabeizuhaben: jemanden, der einspringen konnte, wenn er mal wieder nicht wusste, was er sagen sollte, und dessen unsichtbare Hände halfen. Andererseits wäre der Basketball zum Beispiel unsichtbar gewesen, wenn Jumar ihn berührt hätte, und das hätte sicher für Verwirrung gesorgt.
    »Das Gerücht, das Ihr über den Prinzen gehört habt, ist wahr«, sagte Jumar, als er die erste Portion Dhal Bhat verdrückt hatte. »Er ist hier.«
    »Hier?« Die kleine Frau sah sich um. »Wie meinst du das?«
    »Genauso, wie ich es gesagt habe«, erklärte Jumar, und Christopher stellte sich vor, wie er mit einem Lächeln auf den unsichtbaren Zügen das verblüffte Gesicht der Frau beobachtete.
    »Willst du damit sagen ...« Sie musterte Christopher von oben bis unten – das verblichene Red Hot Chili Peppers-T- Shirt, die Jeans, die Turnschuhe –, und dann warf sie den Kopf zurück und lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Christopher hätte beinahe mitgelacht.
    »Ihr glaubt mir nicht«, sagte Jumar beleidigt.
    »Nun, es fällt schwer«, gab die Frau zu. »Du bist ein netter Junge, und ich hoffe, du kannst für das Zimmer etwas bezahlen, und ich weiß nicht, was dich herführt. Aber du bist sicher nicht der Kronprinz, der dieses Land retten wird.«
    »Seine Arme sind viel zu dünn«, krähte das kleine Mädchen, das Christopher gegenübersaß, verschluckte sich beim Kichern an ihrem Reis und prustete ihn quer über den Tisch.
    »Der Prinz trägt sicher feine Kleider«, sagte ihr Bruder ernst.
    »Ich kann es beweisen«, erklärte Jumar, und Christopher wurde etwas mulmig zumute, während er sich bemühte, seine Lippen zu Jumars Worten zu bewegen. Jeder Taubstumme hätte den Betrug längst bemerkt.
    Kurz darauf spürte er zu seiner Überraschung, wie eine Hand die seine nahm und in die Luft emporführte, seine Finger auseinanderbog, sodass er der Frau seine Handfläche zeigte, als wollte er sie segnen – was hatte Jumar vor?
    Er ließ Christopher los, der seine Hand gehorsam emporhielt, und gleich darauf erschien davor in der Luft ein goldener Ring. Christopher starrte ihn genauso verblüfft an wie die Frau. Der Ring trug ein Siegel, er war groß und schwer und reichlich protzig, und ein Stimmchen in Christophers Hinterkopf schrie laut das Wort MODESCHMUCK, aber dieser Ring war trotz seiner Geschmacklosigkeit echt. Oder zumindest glaubte Christopher das.
    »Er trägt das Wappen des Königs«, hörte er Jumar sagen und vergaß, seine Lippen zu bewegen. »Und es gibt ihn nur ein einziges Mal.«
    Wie stellte Jumar es an, den Ring so in der Luft hängen zu lassen? Weshalb war er sichtbar, obwohl er ihn ganz offensichtlich festhielt?
    Der Ring schwebte in einem sanften Bogen auf den Tisch nieder, und dort blieb er liegen.
    Zögerlich streckte die Frau ihre Hand aus, um ihn zu berühren – als fürchtete sie, das Metall könnte glühend heiß sein. Schließlich strich sie mit der Fingerkuppe darüber, sah auf und lächelte.
    »Das ist verrückt«, sagte sie. »Das ist absolut verrückt. Du bist –Ihr seid es wirklich. Da sitze ich in meiner eigenen Küche

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