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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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erhoben, um ihm ins Wasser zu folgen? Was wollte er? Seine Farben fressen? Ihn in eine Bronzestatue verwandeln? Aber warum – wo war Jumar – wie –
    Und woher kam diese Strömung? Christopher versuchte aufzutauchen, doch etwas zog ihn hinunter, und als er die Augen öffnete, sah er, dass das Wasser vor ihm dunkler wurde. Er versuchte, gegen den Sog anzuschwimmen, der von der Dunkelheit ausging, doch er war zu stark. Und ohne dass er begriff, was geschah, packte ihn jenes dunkle Wasser mit aller Macht und riss ihn in die Tiefe.
    Die Welt erlosch.
    Um ihn herum war nichts, gar nichts, nur Dunkelheit und ein ohrenbetäubendes Rauschen.
    Es war kalt. Er bekam keine Luft.
    Und dann –
    An einem Dienstagnachmittag empfing der König von Nepal in seinem Garten einen Mann mit einer waagrechten Narbe über dem rechten Wangenknochen.
    Der Mann war schlank und hochgewachsen und trug einen Anzug ohne jede Falte.
    Es war, als hätte ihm jemand den Anzug auf die Haut gebügelt.
    Der Mann ging neben dem König den breitesten der Kieswege entlang, und von Zeit zu Zeit wischte er ein unsichtbares Staubkorn von einer seiner Schultern, denn es irritierte ihn, dass sich dort keine Schulterklappen befanden. Er war es gewohnt, eine Uniform zu tragen – auch sie stets tadellos gebügelt. Aber an diesem Dienstagnachmittag war er in Zivil gekommen. So hatte es der König gewünscht.
    »Niemand braucht zu wissen, dass wir diese kleine Unterredung haben«, sagte der König gerade.
    Der Mann nickte. Sein Nicken war so akkurat wie seine Körperhaltung.
    Das Nicken war eine europäische Angewohnheit, die seine Erziehung ihm hinterlassen hatte. In Nepal nicken die Leute nicht –sie bewegen den Kopf zur Seite, wenn sie bejahen, so als könnten sie sich nicht recht entscheiden. Eine Geste, die dem Mann im Anzug verhasst war.
    »Es gibt etwas, das ich dir seit Langem sagen wollte«, erklärte der König und seufzte. Sie nahmen auf einer Bank Platz, über deren Lehne ein üppiger Rosenbusch seine Blütenfülle ergoss. »Du bist über die Jahre mein einziger Vertrauter geblieben, meine Verbindung mit der Welt, und doch gibt es etwas, das du nicht weißt.«
    Der Mann neigte den Kopf, aufmerksam, lauschend.
    Doch vorerst sagte er etwas. Er sagte: »Ich hingegen trage Sorge, Euch alles zu berichten, was draußen geschieht, mein König. Ihr wisst das, wie ich hoffe. Ich habe gehört, dass es böse Zungen gibt in der Stadt. Aber sie reden Unsinn. Ich wollte nur, dass Ihr das wisst. Die Lage ist unter Kontrolle. Meine Truppen sind überall, wo sie sein müssen. Es ist eine Frage der Zeit, bis wir sie haben. Letzte Woche haben wir eines ihrer Nester ausgehoben, ein ganzes Dorf voll von ihnen.«
    »Ich hoffe, es ist nicht zu viel Gewalt vonnöten«, sagte der König leise und betrachtete seine Rosen.
    »Wo ich bin«, erwiderte der Mann im Anzug, »gibt es keine Gewalt. Wo ich bin, gibt es nur Disziplin.«
    Der König seufzte, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, und die Rosen raschelten mit ihren duftenden Blütenblättern.
    »Ich habe dich nicht deswegen hergebeten. Ich habe dich gebeten, weil ich einen Auftrag für dich habe – einen etwas ungewöhnlichen. Es ist ein Auftrag, der nur eines Mannes würdig ist, der an der Spitze eines Heeres steht.«
    »Mein König.«
    »Vor vierzehn Jahren«, sagte der König, und man sah, wie schwer ihm diese Worte fielen, »vor vierzehn Jahren, als du noch auf die Schule in Amerika gingst und niemand hier deinen Namen kannte, schenkte die Königin mir einen Sohn. Ehe sie für immer einschlief. Sein Name ist Jumar Sander Pratap, und niemand sollte je von seiner Existenz erfahren, denn es ist eine unbegreifliche Existenz. Dieser Sohn, der Thronfolger meines Königreichs, ist unsichtbar.«
    Über die Züge des Mannes – auch sie entbehrten nicht eines gewissen Eindrucks, sorgfältig gebügelt worden zu sein – lief ein kaum wahrnehmbarer Hauch von – ja, von was, war schwer zu sagen, es war, als ginge ein Wind über eine Wasseroberfläche und kräusele sie nur das winzigste bisschen.
    Der König bemerkte nichts davon.
    »Niemand weiß, weshalb er unsichtbar auf die Welt kam«, fuhr der König fort. »Überhaupt weiß ich nicht viel über ihn. Er ist in anderer Leute Hände aufgewachsen. Aber diese Leute waren nicht wachsam genug. Seit ungefähr einer Woche – wir wissen es nur vage – ist Jumar verschwunden. Ich möchte, dass du ihn findest.«
    »Mein König«, wiederholte der Mann und neigte wieder den

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