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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Landschaft sprechen.«
    Christopher war zu sehr seines Atems beraubt, um zu antworten.
    Gegen Mittag setzten sie sich auf eine besonders hohe Stufe und machten oberhalb eines weiteren Wasserfalls eine Pause. In der Ferne entdeckte Christopher im Wald farblose Flecken. Auch Jumar musste sie gesehen haben. Doch keiner von ihnen sagte etwas darüber.
    »Wenn ich noch einen Wasserfall sehe«, sagte Christopher gegen Mittag, »kotze ich.«
    Jumar reichte ihm schweigend die Wasserflasche, in der nur noch ein kleiner Rest verblieben war, und als Christopher sie nahm, sah er, dass seine Hand zitterte.
    »Wir müssen etwas essen«, sagte er, »irgendetwas.«
    Jumars Rucksack, der bis eben auf den Steinen einer Treppenstufe gelegen hatte, verschwand, und er hörte ihn darin herumkramen.
    »Fruchtgummi«, sagte er, und die Plastiktüte erschien auf Christophers Knien. »Das ist alles, was wir haben. Ich hatte es eigentlich für die Kinder mitgenommen. In diesem Land trifft man dauernd Kinder. Aber das ist so ziemlich alles, was ich über das Reisen weiß.«
    Christopher steckte ein Stück gelbes Fruchtgummi in den Mund. Es hatte einen gemeinen Beigeschmack, irgendetwas zwischen Rasierseife und Nagellackentferner. Die Bewohner dieses Landes mochten die höchsten Berge der Welt und die blausten Flüsse und die schönsten Sonnenaufgänge haben, aber sie litten alle, so entschied er, an einer kollektiven Geschmacksverirrung.
    »Danke«, sagte er, »ich schaffe es noch ein Stückchen ohne Es-sen.«
    So begann eine endlose Wanderung in die Höhe.
    Manchmal glaubten sie, nie wieder einem Menschen zu begegnen. Manchmal glaubten sie, sie könnten keinen Schritt mehr weitergehen. Jumar fand es interessant, wie sich die Erschöpfung anfühlte und wie es sich anfühlte, wenn man Krämpfe in den Waden bekam, und wie es war, wenn man sich einfach hinsetzte und nicht mehr aufstehen konnte. Dann tastete Christopher nach seiner unsichtbaren Hand und zog ihn hoch und zwang ihn weiterzugehen. Und wenn Christopher nicht mehr konnte, tat Jumar das Gleiche für ihn.
    Sie durchquerten Dörfer mit blau gestrichenen, schiefen Türen und Schildern, die hot water 24 hours versprachen, es aber niemals hatten. Vielleicht war das heiße Wasser mit den Touristen fortgegangen, aber vermutlich war es niemals da gewesen.
    Manchmal sahen sie jetzt im Geäst der Bäume Affen und Vögel, die keine Anstalten machten, vor ihnen zu fliehen. Sie konnten nicht fliehen. Sie waren aus Bronze. Die Nächte waren kalt, und in einem Ort erstanden sie Jacken aus schwerer Wolle, die sie tagsüber abwechselnd im Rucksack herumschleppten. Wenn Jumar die Jacke über seinem Hemd trug, war es, als schwebte die Jacke alleine durch die Gegend, und zuerst fand Christopher es praktisch, dass er endlich sah, wo sich Jumar befand. Aber schließlich ging ihm die schwebende Jacke auf die Nerven – man wusste ja nie, hinter welcher Wegbiegung man doch einmal jemandem begegnete, der sich zu Tode erschreckte –, und er bat Jumar, wenigstens ihren Ärmel in die Hand zu nehmen, damit sie verschwand.
    Zweimal sahen sie von ferne Stellen, an denen der Wald keine Farbe mehr hatte. Christopher bemühte sich, nicht hinzusehen.
    Er gewöhnte sich an Dhal Bhat, und Jumar gewöhnte sich daran, dass Christopher ihm seinen Körper lieh, wenn sie in ein Dorf kamen und er mit den Leuten sprechen wollte. Manche hielten ihn für verrückt, wenn er erklärte, wer er war.
    Manche glaubten ihm.
    Je höher sie stiegen, desto häufiger aber legten die Leute den Finger an die Lippen, wenn Jumar seine Geschichte erzählte. »Wir haben keinen Königssohn gesehen«, sagten sie. »Wenn dir dein Leben lieb ist, dann bist du besser ein Niemand, ein Nichts, einer, den keiner kennt.«
    Und da wussten sie, dass sie auf dem richtigen Weg waren, und Jumar hielt den Mund.
    Es geschah fünf Tage nach ihrem Aufbruch.
    Sie hatten die Nacht in Tatopani verbracht, dem Ort, von dem die Frau gesprochen hatte. Christopher trug jetzt das lange Hemd und die Leinenhosen des Königssohns, denn in einem Land, in dem Gerüchte so schnell reisen, kann ein rotes T-Shirt bisweilen zu laut davon sprechen, wer einer ist. In dem großen, leeren Raum, in dem sie frühstückten, sprachen verlassene, verkrustete Ketchupflaschen und Plastikblumengestecke auf den langen Tischen vom vergangenen Glanz einer Touristen-Epoche. An den Wänden hingen Hochglanzfotos von Berggipfeln und merkwürdigerweise auch eines von einem norwegischen Fischerhafen mit

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