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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Kopf, »ich werde Euren Sohn aufspüren, egal, wo er sich befindet.«
    Und das hatte er vor.
    Jumar sah Christopher untertauchen, und das aufspritzende Wasser durchnässte ihn von oben bis unten. Da Wasser eigensinnigerweise niemals Jumars Unsichtbarkeit annahm, hätte ein vorbeikommender Wanderer sehen können, wie eine merkwürdige Art von Flecken in der Luft stehen blieb – aber es gab nirgends einen Pfad zu begehen bei den heißen Quellen von Tatopani, und so kam kein Wanderer vorbei.
    Das einzige Lebewesen war der Drache, der noch immer mit einem träge geöffneten Auge zwischen den Bäumen lag, einen Steinwurf weit entfernt. Er blinzelte und schloss das Auge.
    Jumar wandte sich wieder dem Wasser zu.
    »Christopher?«, flüsterte er. Doch Christopher konnte ihn nicht hören. Er war irgendwo dort unter Wasser. Aber wo?
    Jumar beugte sich über das Becken und suchte das schummrige Zwielicht nach Christophers Schatten ab. Doch Christophers Schatten war nirgends zu sehen.
    Verwundert balancierte er auf dem rutschigen Rand einmal um das Becken herum bis zu der Stelle, wo es an den Felsen des Berges stieß: nichts. Das Becken war leer.
    Christopher blieb verschwunden.

Christopher erinnert sich (nicht)
    In nur fünf Tagen hatte der Thronfolger Nepals Hunger, Durst, Erschöpfung, Angst und Schmerzen kennengelernt, was kein schlechter Schnitt war. Aber eines fehlte ihm noch: absolute Ratlosigkeit.
    Als er an jenem Morgen an dem Wasserbecken stand und sein Begleiter nicht mehr daraus auftauchte, holte er dieses Manko nach. Er ging genau fünfzehn Sekunden lang am Beckenrand auf und ab wie ein melancholischer Bademeister, faltete die Hände auf dem Rücken, legte die Stirn in Falten, schüttelte den Kopf –dann, in der sechzehnten Sekunde, hörte er etwas rascheln und sah, dass der Drache nun beide Augen geöffnet hatte und begann, seine Schwingen zu entfalten.
    Da hielt er es für besser, Christopher zu folgen – wohin auch immer Christopher verschwunden war. Er streifte eilig die geliehenen Turnschuhe ab, stopfte sie hektisch in den Rucksack und sprang ins Wasser.
    Er erinnerte sich an seine Schwimmstunden zu Hause im königlichen Pool und durchschwamm das Becken mit vier Zügen eines makellosen Delfinstils. Beim fünften Zug packte ihn etwas, und er schnappte erstaunt nach Luft.
    Was keine schlechte Idee war, denn was ihn gepackt hatte, war ein Sog aus der Tiefe, und in den folgenden Minuten bekam er keine Gelegenheit mehr zum Atmen. Er kämpfte kurz gegen den Sog an, aber dann sagte in seinem Gehirn eine Stimme laut und deutlich: »Dieser Sog hat Christopher mit sich gerissen. Wolltest du ihn nicht suchen? Bitte, dann solltest du nicht kämpfen.«
    Kurz darauf spürte Jumar, wie er fiel – es war das gleiche Gefühl im Magen, das er aus dem Fahrstuhl im Palast kannte –, und um ihn war nichts mehr als ein ohrenbetäubendes Rauschen.
    Er stieß seinen Arm an etwas Hartem, schrie auf, bekam Wasser in den Mund und verschluckte sich, und dann gab es eine Art Aufprall, aber nicht auf dem Boden – nein, da war immer noch überall Wasser, aber jetzt trug es ihn aufwärts. Er kam an eine Oberfläche, schnappte nach Luft, hustete, spuckte Wasser und kämpfte mit den Strudeln, die das Wasser um ihn ausspie. Noch immer trug ihn eine starke Strömung. Aber es war absolut dunkel, er konnte nicht einen einzigen Millimeter der Wasseroberfläche sehen.
    Einige Momente später schwoll vor ihm wieder das Rauschen an, und noch ehe er denken konnte »ich werde wieder fallen«, fiel er schon. Während er fiel, begann er zu begreifen.
    Er befand sich mitten in einem unterirdischen Wasserfall.
    Würde dieser Fluss je wieder ans Tageslicht empordringen?
    Und wenn er weiter in diesem Tempo fiel – hatte er auch nur die geringste Chance, den Fall zu überleben? Er rang gegen das Wasser, das ihn mit eisiger Faust hinunterdrückte, zur Seite schleuderte, seine Arme und Beine auf eine ganz und gar rücksichtslose Manier durcheinanderwarf und ihn vergessen ließ, wo oben und wo unten war – rang mit dem Wasser und fühlte in seinem Herzen eine schmerzhafte Angst aufsteigen. Denn was er da um sich herum fühlte und was ihm die Lungen füllte, war nicht das Wasser, sondern die Ahnung einer Möglichkeit.
    Der Möglichkeit zu sterben.
    Er hatte den Tod kennengelernt, als der alte Tapa in seinen Armen die Augen geschlossen hatte. Aber dass er selbst diesen Tod erleben könnte, daran hatte er bisher nicht gedacht. Ein weiterer Felsen streifte

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