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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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wisperte Christopher. »Sie sind keine besonders guten Musiker. Aber das, was sie spielen – ich habe das Gefühl, es soll die Internationale sein!«
    »Die was?«, fragte Jumar, denn da gab es eine eventuell politisch motivierte Bildungslücke in seinem königlichen Privatunterricht.
    Doch Jumar würde wohl im Lexikon nachsehen müssen, wenn er wieder zu Hause im Palast war, denn Christopher kam nicht zum Antworten.
    Denn in diesem Moment verstummten die Trommeln, die schrägen Töne der Geige versiegten, und ein Mädchen trat nach vorne, in die Mitte des Platzes. Sie hob eine Hand, und das Gemurmel auf dem Platz erstarb, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
    Christopher schnappte nach Luft.
    Es ging etwas von dem Mädchen aus, dem man sich nicht entziehen konnte, etwas, das beinahe unheimlich war: Er schätzte sie auf nicht viel älter, als er selbst es war, und doch bedurfte es nicht mehr als ihrer Hand, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Sie sah sich in der Runde um, und ihr Blick traf auch Christopher. Er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Dieses Mädchen war anders als alle Mädchen, die er kannte.
    Ihre Augen, von der Form zweier schmaler Mondsicheln, waren dunkel, beinahe schwarz – doch sie waren nicht kalt und hart wie die des jungen Kämpfers, den er tot am Brunnenrand gefunden hatte. Da war ein Glühen in ihnen und ein Funkeln, so lebendig wie die Knospen der Bäume und der Wind in den Zweigen, heiß wie das Feuer der Sonne, gefährlich: Man konnte daran verbrennen.
    Sie hatte das breite, flache, ebenmäßige Gesicht der Menschen im Norden von Nepal, und die Haut direkt über ihren Wangenknochen war dunkel und durchzogen von feinen, hellen Rissen wie in aufgeplatzter Farbe. Christopher hatte es schon bei den Kindern hier oben gesehen – Spuren der Sonne und der Höhe, die ureigne Handschrift der Berge.
    Das schwarze Haar des Mädchens hing offen um ihr Gesicht, und es hatte lange keinen Kamm mehr gesehen. An einigen Stellen war es verfilzt wie das Fell der Schafe, und Christopher glaubte, Stücke von Blättern und Zweigen darin zu erkennen. Sie trug tarngrüne Hosen, an den Knien schon lange zerschlissen, und ein weites, graues Hemd. Über ihrer Schulter hing ein Gewehr.
    Er zweifelte einen Moment. Womöglich war dies kein Mädchen. Womöglich war es ein Junge mit langem Haar? Nein. Unter dem Hemd zeichnete sich deutlich der Umriss von Brüsten ab, noch zaghaft und zögernd, doch sie waren da, keine Frage, und Christopher schluckte. Ihm wurde bewusst, dass er sie anstarrte. Er war sogar so beschäftigt damit gewesen, sie anzustarren, dass er nicht einmal gemerkt hatte, wie sie begonnen hatte zu sprechen. Erst jetzt drangen ihre Worte in sein Bewusstsein.
    Und es waren Worte, in denen dasselbe Feuer loderte wie in ihren Augen.
    »Eure Kinder hungern, und euer Vieh wird nicht satt werden von Gras auf farblosen Weiden«, sagte sie. »Ist es nicht so?«
    Ein zustimmendes Raunen lief durch die Menge.
    »Der König aber verlangt seine Steuern von euch, ohne sich eurer Sorgen anzunehmen«, fuhr sie fort. »Ist es nicht so?«
    Wieder das Raunen.
    »Und ich frage euch: Wie lange wollt ihr warten und zusehen, wie die Tiere sterben und die Bäuche eurer Kinder anschwellen vom Hunger? Wie lange wollt ihr zuhören, wenn sie nachts weinen, weil sie keinen Schlaf finden? Wie lange wollt ihr euch in euren Häusern verstecken vor den Schatten der Drachen? Wie lange wollt ihr zittern vor den Truppen Kartans, die euch den Rest eurer Vorräte nehmen, wenn sie Quartier in euren Häusern beziehen? Wie lange wollt ihr das Blut riechen, das sie vergießen? Wie lange wollt ihr warten? Wollt ihr warten, bis er, Kartan, auf seinem nachtschwarzen Pferd nach Kathmandu hineinreitet und sich selbst zum König macht?«
    Das Raunen wurde lauter, schwoll an wie ein Fluss: Nein, nein. Nein, so lange wollten sie nicht warten. Und Christopher ertappte sich dabei, wie auch er mit ihnen wisperte, ganz leise Nein.
    »Mein Name ist Niya«, sagte das Mädchen. »Und ich bin eure Schwester. Mein Vater ist in die Berge gezogen, um sich denen anzuschließen, die die Dinge ändern wollen«, fuhr das Mädchen fort. »Schon vor vielen Jahren, als die in den Bergen noch wenige waren. Wir haben seine Kleider vor der Tür gefunden, durchtränkt von Blut, und in sein Hemd gewickelt war ein Herz. Vielleicht war es das Herz einer Ziege, aber vielleicht auch nicht. Kartans Grausamkeit kennt keine Grenzen. Meine Brüder sind ihm

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