Drachen der Finsternis
Luft des Nachmittags.
»So wird es später wieder überall sein«, sagte eine Stimme neben ihm.
Christopher zuckte zusammen.
Da war niemand.
Und dann lächelte er. »Jumar?«
»Hm, ja«, sagte Jumar. Er schien etwas verlegen zu sein.
»Es ... es tut mir leid. Du hattest recht. Vielleicht. Dass ich dich brauche.«
»Mir tut es auch leid«, murmelte Christopher. »Womöglich brauchen wir uns gegenseitig. Ich wollte dich fragen, was die Zeichen auf den Steinen bedeuteten ...«
»Einfache Gebete. Du hast irgendwo dort den Weg verloren.«
»Und du – du bist mir nachgegangen, vom Weg ab?«
»Hmm.«
»Versprich mir«, sagte Christopher, »versprich mir, Jumar, dass du mir ab jetzt von allem erzählst, was du siehst. Es ist wichtig.«
Jumar seufzte. »In Ordnung. Ich verspreche es.«
»Dann verspreche ich dir, dich nicht allein zu lassen. Auch wenn ich Arne finde. Ich helfe dir, das Basislager zu entdecken und ... und alles, was noch kommt.«
Sie schwiegen.
»Jetzt könnten die Geigen einsetzen«, sagte Jumar schließlich.
»Bitte?«, fragte Christopher irritiert.
»Die Geigen. In den amerikanischen Filmen wären an dieser Stelle Geigen.«
Da boxte Christopher vor sich ins Nichts, und etwas Unsichtbares boxte aus dem Nichts zurück, aber dann sagte Jumar: »Moment. Sieh nur. Dort!«
Er nahm Christophers Arm und zeigte mit ihm in die Richtung, die er meinte.
Da sah auch Christopher den Schatten, der den Berg gegenüber entlangglitt, hinab, hinab, auf das Dorf zu. Christopher suchte den blauen Himmel ab, und er brauchte nicht lange zu suchen: Der Drache schillerte grün und violett, rot und gelb, blau und silbern –
Er duckte sich und spürte, dass Jumar das Gleiche tat.
Einen Augenblick krallte sich wieder die Angst in ihm fest, doch der Drache kam nicht auf sie zu. Er hatte ein anderes Ziel, und gleich erreichte er es:
Die Menschen in den Gassen des Dorfes liefen durcheinander wie Ameisen, Türen wurden hektisch geschlossen, Kinder in die Häuser gezerrt – kurz darauf waren die Gassen menschenleer. Christopher atmete auf. Sie hatten es geschafft.
Aber der Drache scherte sich nicht um die Menschen, die zerstörerische Macht seines Schattens war nur eine Nebenwirkung, von der er vielleicht nicht einmal selbst etwas wusste. Seine weiten Schwingen bedeckten das Dorf, als er sich darauf niederließ und begann, die Farben zu fressen: das saftige Grün der Obstbäume, das Gelb der Aprikosen, das Rot der Pfirsiche, das goldene Glänzen des frischen Heus.
Als Christopher und Jumar im lauen Licht des frühen Abends das Dorf erreichten, war der Drache lange fort. Die Menschen wagten sich wieder aus ihren Häusern und fuhren mit ihrer Arbeit fort – sie wendeten farbloses Heu und ernteten schwarzweiße Früchte.
Die Aprikosen waren grau, die Pfirsiche waren grau, die Häuser waren grau, und auch die Stimmung des Abends war grau: Das Dorf glich einer erloschenen Kerze. Sein bunt glühender Farbfleck im eintönigen Braungrün der Berge hatte sich in eine graue Pfütze verwandelt, eine Pfütze aus ungeweinten Tränen. Und mit einem Mal wirkten die braungrünen Berge beinahe bunt dagegen. Wann würden die Drachen ihre Farben fressen?
Wie lange würde es noch dauern, bis das ganze Land schwarzweiß war?
»Oh, wie wütend es einen macht, wie wütend!«, zischte Jumar. »Wenn ich nur die Macht meines Vaters schon besäße! Es muss endlich etwas geschehen!«
Dieser Meinung waren auch andere.
Und an jenem Tag, in jenem Dorf ohne Farben, sollte die Reise der beiden Wanderer eine gänzlich neue und unerwartete Richtung bekommen.
Die einzige größere Gasse des Dorfes öffnete sich zu einem kleinen Platz, und zur Überraschung der beiden Jungen erklang von dort aus Musik. Der Rhythmus von Trommeln und etwas wie eine hektische Melodie schwebten vom Platz her zu ihnen herüber, lockten und warben, und dann sahen sie auch die Menschenmenge, die sich auf dem Platz versammelt hatte.
Sie stellten sich in die hinterste Reihe und machten die Hälse lang.
Ja, dort, in der Mitte des Platzes, saßen zwei Männer am Boden und trommelten. Ein dritter stand hinter ihnen und entlockte einer alten Geige eine zu schnelle Reihenfolge an mäßig zusammenpassenden Tönen, und ungefähr ein Dutzend weitere lehnten an einer Hauswand. Die Männer trugen tarngrüne Militärjacken und schwere Stiefel, und unter den Jacken blitzten die Patronengurte. Es war nur allzu klar, um wen es sich handelte.
»Es ist schwer zu erkennen«,
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