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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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schmolz den Schnee in seinem Herzen. Es war, als löste sich ein großer, eisiger Klumpen mitten in ihm und begann, fortzufließen ins Nichts.
    »Der große T hat sich verändert«, flüsterte sie. »Er hat jetzt zu viel Macht. Damals, als er mich unter den Trümmern hervorzog, war sein Gesicht noch voller Leben. Jetzt ist es kalt geworden. Ich habe ihn gesehen – wenngleich nur von ferne.«
    Sie lehnte den Kopf an Christophers Schulter und sagte voller Überzeugung: »Ich hasse das Lager. Es ist nicht das Training, das macht mir nichts aus. Ich bin stark, und ich bin zäh. Aber die Menschen! Sie sehen mich von der Seite an, mit Augen voller Misstrauen. Sie sagen, ich kann mich nicht unterordnen. Womöglich haben sie recht.«
    Sie seufzte. »Und ich habe die Bewohner der Stadt gesehen.«
    »Ich auch, Niya. Ich auch. Die wenigsten bemerken sie.«
    »Manchmal denke ich, es geht meinen Leuten nicht darum, Gerechtigkeit zu schaffen und den Menschen zu helfen. Es geht nicht darum, den Feldern ihre Farbe zurückzugeben und ein Land zu schaffen, in dem es Frieden gibt. Wenn ich all jene Gruppenführer und Untergruppenführer sehe, wenn ich ihre Befehle höre – manchmal glaube ich, es geht nur noch um die Macht«, fuhr sie fort. »Macht an sich, ohne Grund. Ohne Zweck. Das war nicht die Idee des Kommunismus, wie ich ihn verstehe. Manchmal – manchmal weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich gehöre nicht hierher. Aber wohin gehöre ich dann?«
    Ihr Haar kitzelte an Christophers Hals. Er griff hinein wie in das Fell eines Tieres, verwob seine Finger mit ihren Haarsträhnen und verlor sich darin wie in Gedanken. All seine Schüchternheit war verschwunden, die Nacht war zu unwirklich für Dinge wie Schüchternheit.
    »Und ich habe deinen Bruder gesehen«, sagte sie.
    Er fuhr hoch. »Du hast –?«
    »Er sagt, er wäre dein Bruder. Er ist blond und groß und hat ein anderes Gesicht, aber er hat das gleiche Lächeln wie du. Er hat dich gesehen, aber du hast ihn nicht gesehen. Er kann sich nicht erklären, wie du hierhergekommen bist. Er hat mir erzählt, woher ihr kommt. Von so weit, weit fort.«
    »Wo ist er?«, fragte Christopher. »Wie geht es ihm?«
    »Es geht ihm ... den Umständen entsprechend«, antwortete sie. »Er lebt, und er ist gesund. Eine Woche lang war ich mit meinem Trupp Frauen dafür zuständig, den drei Gefangenen ihr Essen zu bringen.«
    »Sie – sie sind also doch – Gefangene?«
    »Was sollten sie sonst sein?«
    Christopher schluckte. »Man hat mir erzählt, sie wären freiwillig hier. Sie würden mit uns – mit ihnen – sie würden –«
    Er verstummte.
    »Sie wären hier, um zu kämpfen?«, fragte Niya leise.
    Christopher nickte. Da lachte Niya, und ihr Lachen war rau wie der Wind und bitterböse. »Sie sind im Keller eines der Häuser«, flüsterte sie, »am westlichen Rand der Stadt. Es ist zu kalt dort. Und einer ist krank. Nicht dein Bruder, ein anderer. Sie halten sie als Geiseln fest, damit die Mächtigen in ihren Ländern nicht eingreifen, wenn der König sie darum bittet. Falls er dazu kommt, das zu tun.«
    »Das war es«, sagte Christopher leise, »was ich zu Anfang dachte. Deshalb kam ich. Um ihn zu finden. Aber dann –«
    »Dann bist du auf den Traum hereingefallen«, sagte Niya. »Den der große T über uns ausgießt wie Schlangengift. Du bist hereingefallen, genau wie ich.«
    »Aber Arne – der Blonde – mein Bruder – ist er wirklich gesund?«
    »Ich denke. Nun ja. Ich mag es nicht, wie man sie behandelt. Ich habe dem Anführer meines Trupps gesagt, dass sie einen Arzt brauchen. Er hat nur geantwortet, ich sollte mich nicht um Dinge kümmern, die mich nichts angingen.«
    »Niya – könnten wir hingehen? Könnten wir sie nicht befreien?
    »Nein«, sagte sie einfach. »Noch nicht. Aber wir werden es tun.«
    »Wir – das heißt, du hilfst mir?«
    »Verlass dich drauf, antwortete sie grimmig. »Ich werde alles tun, was der große T verbietet. Warte nur.«
    Ihre Hand suchte seine und fand sie und hielt sie fest im weißen Halbdunkel der eisigen Schneenacht.
    Christopher schluckte noch einmal. »Vielleicht ist diese Nacht lang genug, um dir meine Geschichte zu erzählen«, sagte er. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du sie hörst.«
    Da rückte sie noch ein Stück näher an ihn heran, und ihm wurde etwas merkwürdig zumute.
    »Dann erzähl sie mir später«, wisperte sie. Sie schloss seine Augen mit einer sachten Bewegung ihrer Hand, und dann spürte er ihre Lippen auf den seinen.

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